14.01.2016 | Deutscher Bundestag / 18. EP / Session 149 / Tagesordnungspunkt 14

Georg KippelsCDU/CSU - Bevölkerungsstatistik

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Staatenlose leben im Niemandsland der Weltgemeinschaft. Sie sind körperlich existent, aber sie sind nicht Gegenstand der juristischen Anwendung. Sie sind Individuen, aber sie werden nicht wahrgenommen. Sie leben, aber sie werden von der Gesellschaft nicht als vollwertiges Mitglied respektiert und vor allen Dingen akzeptiert. Es ist ein globales Phänomen, keineswegs ein Phänomen, das ausschließlich in den Ländern der Dritten Welt bzw. in den Entwicklungsländern auftritt. Auch in Weltstädten haben wir es zunehmend mit dem Phänomen zu tun, dass Menschen ohne Geburtenregistrierung ihr Dasein fristen und in der Gesellschaft schlicht und ergreifend nicht wahrgenommen werden. Sie sind im Schatten der Gesellschaft. Sie sind nicht in der Lage, ihre Menschen- und Bürgerrechte zu reklamieren und auf diese Art und Weise aktiver und gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein.

Mit unserem Antrag „Bevölkerungsstatistiken verbessern – Zivile Registrierungssysteme stärken“ fordern wir das verbriefte Recht eines jeden Kindes auf eine Registrierung direkt nach seiner Geburt. Nach Artikel 7 der UN-Kinderrechtskonvention hat ein jedes Kind das Recht, seine Persönlichkeits-, Grund- und Menschenrechte auf der Grundlage einer Geburtenregistrierung wahrzunehmen und vor allen Dingen sein individuellstes Merkmal, nämlich seinen Namen, unwiederbringlich zuerkannt zu bekommen.

Jedes dritte Kind unter fünf Jahren weltweit ist offiziell nicht registriert. Laut einem Bericht des UNHCR kommt alle zehn Minuten ein Baby ohne Geburtenregistrierung zur Welt. Die Mehrzahl der nicht registrierten Kinder kommt aus Südostasien; derzeit sind es 24 Millionen. An zweiter Stelle steht die Subsahara-Region, wo nahezu 20 Millionen Kinder ohne Geburtsurkunde leben.

Weltweit addiert sich die Anzahl der nicht registrierten Kinder unter fünf Jahren auf immerhin 230 Millionen Menschen. In den Entwicklungsländern sind immerhin 50 Prozent aller unter Fünfjährigen nicht offiziell gemeldet. Das heißt, alle zehn Sekunden fällt ein Kind, ein Mensch durch das Auffangnetz der Gesellschaft und kann sich deshalb nicht im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten entwickeln und aktiv in seine Gesellschaft einbringen.

Die aktuelle Flüchtlingskrise verschärft diese Problemstellung in hohem Maße. Allein seit 2011 und dem Beginn des Syrien-Konfliktes sind mehr als 50 000 Kinder auf der Flucht geboren worden. Sie sind juristisch unsichtbar, aber sie sind natürlich Bestandteil unserer Bevölkerung, sie sind Bestandteil unserer Weltgemeinschaft, und sie haben natürlich das elementare Recht, ihre Befähigungen, ihre Talente und auch ihre Wünsche im Rahmen ihrer persönlichen Lebensgestaltung umzusetzen.

Seit dem Jahr 2000 gab es im Bereich der Registrierung, der sehr stark verwaltungstechnisch geprägt ist, zunächst sichtbare Erfolge, die allerdings durch die Zunahme der Krisen in den Entwicklungsstaaten und durch den damit einhergehenden Zerfall von Verwaltungsstrukturen zunehmend wieder rückläufig wurden. Gerade ethnische Minderheiten, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende sind in besonderem Maße von dieser Problemstellung betroffen.

Angesichts der zunehmenden Bevölkerungsdichte ergibt sich eine Spirale des Chaos und der Rechtlosigkeit. Die Menschen, die keiner offiziellen Zuordnung zugänglich sind, ihren Heimatländern vielleicht moralisch und mit ihrem Herzen, aber jedenfalls nicht juristisch verbunden sind, können in der Staatsplanung, in der Planung der Infrastruktur von Gesundheitssystemen, von Sozialversicherungssystemen und Bildungssystemen nicht berücksichtigt werden. Damit fehlt ihnen letztendlich die Teilhabemöglichkeit.

Keine Geburtsurkunde – kein Name, keine Bürgerrechte, die es zu artikulieren gilt; keine Geburtsurkunde – kein Schutz vor Ausbeutung; keine Geburtsurkunde – keine Gesundheitsversorgung und kein Recht auf Bildung. Die Betroffenen sind weitestgehend vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen, und sie sind – ich glaube, das ist der Punkt, der besonders beklagenswert ist – in den meisten Fällen Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Sie sind Gegenstand von Kinderhandel, sie sind Gegenstand von Vergewaltigung und Prostitution, sie werden als Kindersoldaten rekrutiert oder in Minen, Bergwerken und auf Plantagen ausgebeutet. Sie sind aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft nicht in der Lage, ihre Schutzbedürftigkeit zu dokumentieren.

Insofern ist es im Rahmen unserer entwicklungspolitischen Aufgabenstellung eines der elementarsten Ziele, die Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit und in Rechtsträgerschaft umzuwandeln, was allerdings nicht nur mit entsprechenden Entwicklungshilfemitteln, mit finanzieller Hilfe möglich ist; vielmehr müssen die Strukturen in den betroffenen Ländern aufgebaut und unterhalten werden.

Da kommen uns in der Zwischenzeit die digitalen Errungenschaften zugute. Mit digitalen Fingerabdrücken und dem Scan der Iris des Auges ist zunächst die Unverwechselbarkeit des Individuums aufzunehmen, und die Daten müssen dann in der gehörigen Form mit den Personalpapieren, mit der Geburtsurkunde und mit dem Register der Staaten abgeglichen und in Verbindung gebracht werden.

Dies alles ist heutzutage leichter möglich. Gerade UNICEF arbeitet intensiv an entsprechenden Projekten: In Afrika verfügt jeder Fünfte über ein Smartphone; über eine entsprechende App hätten Hebammen und sonstige Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, die von Geburten Kenntnis erlangen, die Möglichkeit, sofort vor Ort eine wirksame und vor allen Dingen dauerhaft nachverfolgbare Registrierung vorzunehmen.

Wir alle brauchen diese Erkenntnisse, allein weil wir mit Rücksicht auf die ständig zunehmende Bevölkerungsdichte in den Bereichen Entwicklungshilfe, Städtebau und Versorgung Planungen vornehmen müssen. Aber nur wenn wir belastbare Zahlen haben, sind wir in der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Ein Staat, der seine Kinder nicht kennt, ist kein Staat. Die demografische Entwicklung wird uns letztendlich in irgendeiner Form überrollen, wenn wir nicht in der Lage sind, Entwicklungen vorherzusehen und zu planen.

Natürlich sind auch die Rechte in Drittstaaten zunehmend von Bedeutung – das sehen wir im Moment im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage –, sprich: die Rechte in den Staaten, in die sich die Menschen begeben, in denen sie Schutz suchen. Letzten Endes wird sich diese Frage auch auf unseren Lebensbereich auswirken und uns vor entsprechende Aufgaben stellen. Wir werden uns dieser Frage zunehmend intensiver stellen müssen. Wir müssen unsere Erfahrungen in diesen Prozess einbringen und die modernen technischen Möglichkeiten nutzen. Wir müssen in den Heimatländern der Menschen, die sich auf den Weg in eine bessere Welt begeben haben, Strukturen schaffen, die es diesen Staaten ermöglichen, ihre Bürgerinnen und Bürger zu halten und zu versorgen.

Dieser Prozess muss mit modernen Medien vorangetrieben werden. Wir haben die Möglichkeiten dazu. Wir müssen in dieser Frage international zusammenarbeiten, und wir müssen die Projekte und Konzepte für alle transparent und vor allen Dingen anwendbar gestalten. Das ist nicht nur eine finanzielle Aufgabe, sondern auch eine logistische, der wir uns in der nächsten Zeit intensiv widmen müssen.

Deshalb ist die Bevölkerungsstatistik nicht nur eine theoretische Berechnungsgröße, sondern Lebensrealität für jeden, der mit seinen Personalpapieren ausgestattet seine Individualität jederzeit gegenüber Dritten und gegenüber dem Staat geltend machen kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Movassat, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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Electoral Period 18
Session 149
Agenda Item Bevölkerungsstatistik
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