Katharina DrögeDIE GRÜNEN - Nationales Reformprogramm 2016
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Westphal, mir ist aufgefallen, dass Sie es geschafft haben, in Ihrer ganzen Rede kein einziges Mal zu erwähnen, worüber wir hier heute Abend eigentlich diskutieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bernd Westphal [SPD]: Doch! Das Nationale Reformprogramm!)
Wir reden nämlich nicht über eine Zusammenfassung dessen, was die Bundesregierung gerade so tut, sondern wir reden darüber, dass die Europäische Kommission uns seit zehn Jahren sagt, dass wir ein Stabilitätskriterium reißen, das wir auf europäischer Ebene selbst mit vereinbart haben, und dass wir es seit zehn Jahren nicht schaffen, dieses Stabilitätskriterium in den Griff zu bekommen.
Ich finde es europapolitisch schwierig – ich ärgere mich darüber –, dass gerade wir, die Bundesrepublik Deutschland, die selbst ansonsten bei anderen europäischen Ländern so streng darauf achten, dass europäische Vereinbarungen eingehalten werden, wenn wir selbst einmal im Fokus der Europäischen Union stehen, weil wir eben nicht alles so vorbildlich eingehalten haben,
(Bernd Westphal [SPD]: Wir haben 1 Million Flüchtlinge aufgenommen!)
wie wir es europäisch vereinbart haben, sagen: Ach, dieses Kriterium ist ja auch irgendwie schwierig. Das ist vielleicht gar nicht so gemeint, wie man das auf europäischer Ebene vereinbart hat. Das ist ein Problem, für das wir nichts können. Das hängt dann irgendwie mit dem Ölpreis und mit dem Euro zusammen;
(Bernd Westphal [SPD]: Das habe ich so nicht gesagt!)
das wird aus den Reihen der Union immer wieder gesagt. Das ist etwas, an dem wir nichts ändern können. – Das finde ich europapolitisch schwierig. Wenn man von anderen Ländern die Einhaltung von Vereinbarungen verlangt, dann muss man selber als gutes Vorbild vorangehen. Das ist nicht nur europapolitisch richtig, sondern es ist auch ökonomisch sinnvoll.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dazu möchte ich auch in Ihre Richtung, Herr Lenz, etwas sagen. Sie haben sich ja mit dem Nationalen Reformprogramm intensiv auseinandergesetzt. Ich verstehe nicht, warum Sie in Ihren Reden immer wieder als Erstes sagen, dass es darum geht, dass die deutsche Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt werden soll, dass die deutschen Exporte reduziert werden sollen. Um es noch einmal klar zu sagen: Niemand hat etwas dagegen, wenn wir Autos oder Maschinen in die Welt exportieren und wenn unsere Produkte gut ankommen und nachgefragt werden. Um es ganz einfach zu sagen: Es geht darum, dass wir zu wenig italienischen Wein und zu wenig französischen Käse kaufen und dass wir zu wenig Urlaub in Griechenland machen. Das ist das, was uns die Europäische Kommission aufschreibt. Es geht um die Binnennachfrage und nicht um die Exportstärke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU)
– Ja, das finden Sie jetzt unangenehm, und zwar deshalb – deswegen reden Sie auch nicht darüber –, weil uns die Europäische Kommission da etwas aufschreibt, was Sie als Bundesregierung nicht hinbekommen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bernd Westphal [SPD]: Müssen wir jetzt ein Gesetz erlassen, italienischen Wein zu trinken?)
Worum geht es? Es geht darum, dass im europäischen Vergleich die Lohnentwicklung in Deutschland seit mehr als einem Jahrzehnt zu niedrig ist. Es geht besonders darum, dass die Investitionstätigkeit sowohl der öffentlichen Hand als auch des privaten Sektors in Deutschland zu gering ist und dass wir es deswegen nicht hinbekommen, eine ordentliche Binnennachfrage zu erzeugen. Deutschland als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union könnte etwas dafür tun, dass die Nachfrageschwäche in der Europäischen Union reduziert wird.
(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Schwachsinn! – Matthias Ilgen [SPD]: Ein bisschen mehr Wein und Käse kaufen!)
Würden wir unsere Binnennachfrage steigern, hätten unsere europäischen Nachbarländer die Chance, mehr Produkte hierher zu exportieren.
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Französischen Käse kaufen!)
– Ja, Sie können so viel französischen Käse kaufen, wie Sie wollen. Es geht um eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Hier geht es um unsere Binnennachfrage. Diese müssen wir verbessern.
Ganz ehrlich: Was Sie tun, ist ein Armutszeugnis. Sie sind in einer Situation steigender Steuereinnahmen und niedriger Zinsen; das ist ein Traum für jeden Finanzminister. Sie schaffen es trotzdem nicht, ausreichend zu investieren, zum Beispiel in die Bildung. Sie schaffen es nicht, dafür zu sorgen, dass wir in diesem Land Schulen haben, die ordentlich gestrichen sind; das müssen die Eltern selber machen.
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Es gibt zu viele rot-grün regierte Länder, die die Schulen verkommen lassen! Ich kenne die verkommenen Schulen auch aus Schleswig-Holstein!)
Sie schaffen es nicht, die 12 000 maroden Brücken in diesem Land zu sanieren. Sie schaffen es nicht, schnelles Internet in diesem Land bereitzustellen. Sie schaffen es auch nicht, eine vernünftige Klima- und Energiewende hinzubekommen. All das schaffen Sie nicht, obwohl Geld vorhanden wäre.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
All das ist schlecht für die Wirtschaft, und all das könnten Sie ändern. Dann würden Sie auch die europäische Volkswirtschaft stabilisieren; das ist die Verantwortung, die Sie haben. Dann müssten Sie auch nicht auf Mario Draghi und seine Niedrigzinspolitik schimpfen.
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wenn Sie etwas für die Investitionen hier und in Europa täten, dann müsste Mario Draghi nicht als letzter Verteidiger der europäischen Konjunkturpolitik dastehen, sondern dann hätte Deutschland die Chance, hieran etwas zu ändern. Es liegt an Ihnen, dass das nicht passiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Noch ein letzter Satz zum Nationalen Reformprogramm. Es ist ein Erfolg, dass wir heute Abend um 21 Uhr darüber diskutieren; beim letzten Mal haben wir um 23 Uhr darüber diskutiert. Es ist auch ein Erfolg, dass wir im Bundestag überhaupt darüber sprechen, bevor es nach Brüssel versandt wird. Wir haben eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht, damit das Nationale Reformprogramm wirklich ernst genommen wird. Dazu gehört unter anderem, dass der Deutsche Bundestag über dieses Programm abstimmt. Dann könnten Sie nämlich auch einmal erklären, wie Sie sich zu den einzelnen Maßnahmen verhalten, statt dieses Thema immer erst in der letzten Stunde, wenn niemand mehr hinschaut, zu debattieren.
(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Wir sind doch alle da!)
Das Ganze war die Antwort der Europäischen Union auf die Wirtschaftskrise. Eine stärkere wirtschaftspolitische Koordinierung war die Lehre aus der Finanzmarktkrise. Das Nationale Reformprogramm ist dafür ein zentrales Instrument. Ich finde, es ist Ihre Pflicht, es ernst zu nehmen, auch und gerade dann, wenn es Deutschland ein bisschen wehtut.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vielen Dank. – Jetzt haben wir alle gehört, wie viel man in kurzer Zeit sagen kann.
Ulrich Freese von der SPD-Fraktion hat als nächster Redner das Wort.
(Beifall bei der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/6792892 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 167 |
Tagesordnungspunkt | Nationales Reformprogramm 2016 |