09.06.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 176 / Tagesordnungspunkt 9

Marco WanderwitzCDU/CSU - Aufarbeitung der SED-Diktatur

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im September 1990, einen Monat vor der Wiedervereinigung, erkämpften Bürgerrechtler eine Zusatzklausel im Einigungsvertrag, die den Deutschen Bundestag aufforderte, eine gesetzliche Regelung für den Zugang zu den Akten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR zu schaffen. Dem vorausgegangen war unter anderem die Erstürmung der Bezirksverwaltungen der Stasi seit Dezember 1989, auch deshalb, weil dort offenkundig bereits Akten vernichtet wurden. 111 Kilometer laufende Akten konnten am Ende sichergestellt werden, Akten der Staatssicherheit, die den Menschen im Auftrag der SED in der ehemaligen DDR willkürlich Verfolgung und Unterdrückung hat angedeihen lassen, zuletzt mit 91 000 hauptamtlichen und 180 000 inoffiziellen Mitarbeitern in einem Land mit knapp 20 Millionen Einwohnern. Die Sicherung der Stasiakten ist nicht nur beispiellos, sondern auch ein Stück weit zumindest eines der Vermächtnisse der friedlichen Revolution von 1989/1990. Wir sind hier im Haus bisher immer sehr sorgsam und sorgfältig damit umgegangen. Das muss und soll auch so bleiben.

Aufarbeitung hat kein Ende; Aufarbeitung darf kein Ende haben. Wir haben hier im Bundestag öffentlich und auch nichtöffentlich in den Gremien und Ausschüssen mittlerweile unzählige Gespräche und Debatten über das Thema „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ geführt. Wir haben allein das Stasi-Unterlagen-Gesetz achtmal novelliert, damit auch ein Stück weit seine Anpassungsfähigkeit bewiesen und deutlich gemacht, dass es dem Grunde nach ein gutes Gesetz ist.

Die Stasi-Unterlagen-Behörde hat in zwölf Tätigkeitsberichten Rechenschaft über ihre Arbeit abgelegt und sich stets – ich sage es einmal so – atmend weiterentwickelt, auch personell. Am Anfang hatte die Behörde 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in einer Hochphase dann 2 400, und jetzt sind wir bei 1 600, also wieder ein Stück weiter unten, angekommen, immer auch den Aufgaben folgend. Noch immer werden Monat für Monat rund 5 000 Anträge auf Akteneinsicht bei der Stasi-Unterlagen-Behörde gestellt. Insgesamt haben bereits über 7 Millionen Menschen ihr Recht auf Akteneinsicht in Anspruch genommen. In den letzten vier Jahren wurden über 30 000 Anträge allein aus dem Bereich „Forschung und Medien“ gestellt. Die Aufgaben der Stasi-Unterlagen-Behörde sind – das sieht man ganz deutlich, allein an diesen Zahlen – nicht beendet, sondern bestehen fort.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Gleichwohl haben wir als Deutscher Bundestag im Juli 2014 auf Antrag von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine Expertenkommission zur Zukunft der Stasi-Unterlagen-Behörde eingesetzt, weil wir gesagt haben: Was gut ist, kann man ja noch besser machen. Man kann zukunftsfähige, effizientere Strukturen suchen, um zum einen dauerhaft archivgerecht zu sichern und zum anderen Qualitätsgewinne zu generieren, insbesondere bei den Themen Wartezeiten und Forschung. – Vor zwei Monaten nun hat die Expertenkommission ihren Abschlussbericht, ihre Ergebnisse und Handlungsempfehlungen vorgelegt. Ich für meinen Teil möchte an dieser Stelle noch einmal sagen, dass ich der Kommission und allen ihren Mitgliedern für die Arbeit danke, die sie geleistet haben. Der Vorsitzende, Professor Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident a. D., hat mit viel politischer Erfahrung einen konsensorientierten Austausch innerhalb der Kommission möglich gemacht. Dafür sage ich ihm herzlich Dank. Dass 13 der 14 Kommissionsmitglieder den Abschlussbericht getragen haben, zeigt ja auch, dass es mit dem Konsens ganz gut funktioniert hat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die an uns gerichteten Handlungsempfehlungen sind für mich und meine Fraktion wichtige Grundlagen für die Entscheidungen zur Zukunft der Stasi-Unterlagen-Behörde im Gefüge der Gedenkstättenlandschaft. Wir haben in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien zu diesem Thema am 27. April 2016 bei Teilen der Vorschläge aber auch viel Gegenwind erfahren. Unsere Fraktion hat im Nachgang viele Gespräche geführt und gehört, dass es viel Verunsicherung und sehr viele Sorgen gibt, zum Beispiel über das für die angelegten Reformvorschläge gewählte Zeitfenster bis 2021. Wir haben von den direkt betroffenen Institutionen gehört, dass sie sich nicht hinreichend eingebunden gefühlt haben, und wir haben auch gehört, dass viele Opfer sehr unglücklich darüber und unzufrieden damit gewesen sind, wie wir mit der Wiederwahl von Roland Jahn zum Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen verfahren sind.

Das alles hat uns dazu gebracht, zu sagen: Wir müssen behutsamer und langsamer vorgehen, als man sich das hätte vorstellen können. Wir wollen von dem Stasi-Unterlagen-Beauftragten und dem Präsidenten des Bundesarchivs ein Konzept erarbeitet wissen – so ist auch der heute vorliegende Antrag angelegt –, das breiter und tiefer ist und uns besser in die Lage versetzt, abschätzen zu können, wie groß der Zeitraum sein muss, bis das Stasi-Unterlagen-Archiv und das Bundesarchiv zusammenkommen können. Dieses Konzept wollen wir mit den Opfern und den Verbänden breit diskutieren. Es ist aus unserer Sicht Aufgabe, in der nächsten Legislaturperiode – nicht in dieser – hier zu Entscheidungen zu kommen.

Nun sagen manche schon, damit würde man das wieder auf die lange Bank schieben.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Genau!)

Wir reden ja schon relativ lange darüber, was man verändern kann.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Acht Jahre!)

Allerdings haben wir von Anfang an gesagt: Veränderungen müssen Verbesserungen sein. Diese Verbesserungen – beispielsweise in Bezug auf die archivgerechte Aktenlagerung und die Wartezeiten – müssen so auf der Hand liegen, dass wir eben sicher sein können, dass es sie auch gibt. Ich glaube, dafür bedarf es einer größeren und vertieften Kooperation zwischen dem BStU und dem Bundesarchiv.

Wir als Fraktion sind noch nicht an dem Punkt angekommen, mit gutem Gewissen sagen zu können, dass wir uns sicher sind, dass das funktioniert; denn auch fast drei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution müssen wir die Anliegen, Sorgen und Ängste der SED-Opfer ernst nehmen. Es ist ja nicht so, dass mit der Freiheit automatisch die Wunden verheilt sind. Im Gegenteil: Viele Wunden sind erst aufgebrochen, weil man frei darüber reden konnte. Jedem, der davon überzeugt werden muss, empfehle ich die Lektüre des Buches von Kerstin Gueffroy mit dem Titel Die Hölle von Torgau: Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte. Das ist kein Einzelschicksal, sondern eines von über 300 000 Heimkindern. Das Buch ist im Übrigen im September 2015 erschienen, 26 Jahre nach der erlangten Freiheit. Das war der Zeitpunkt, zu dem es geschrieben werden konnte. Das illustriert ganz gut, worüber wir hier sprechen. Die Zeit heilt Wunden. Aber die Bestimmung des Zeitpunkts liegt bei den Verwundeten, nicht bei denen, die die Wunde verursacht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Viele Opfer und Betroffene brauchen einen zeitlichen Abstand zur Auseinandersetzung mit der persönlichen Vergangenheit, von Verarbeitung nicht zu sprechen.

Die juristische Aufarbeitung ist mittlerweile weitestgehend abgeschlossen. Dabei zeigte sich leider sehr oft, dass der freiheitlich-demokratisch verfasste Rechtsstaat bei der Aufarbeitung der Diktatur an seine Grenzen kommt. Vielfach empfinden Opfer das, was juristische Aufarbeitung ausgemacht hat, nicht als Gerechtigkeit. Ich kann das in vielen Fällen gut verstehen. Ich glaube, das geht vielen hier im Hause so.

Was aber bleibt, ist die gesellschaftliche Aufarbeitung. Da haben wir noch eine ganze Menge Spielräume, beispielsweise bei der Verbesserung von Opferrechten, beispielsweise bei Renten und Entschädigungsleistungen für erlittenes Unrecht. Ich möchte Dieter Dombrowski, den Vorsitzenden der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft, auf der Tribüne herzlich begrüßen

(Beifall im ganzen Hause)

und seine Stellungnahme im Fachgespräch zitieren:

... was wir, die Opfer von SED und Stasi verlangen, ist nicht nur die Förderung des Gedenkens der Bildungsarbeit, sondern wir verlangen Respekt vor dem Leid und den Leistungen der Opfer der zweiten deutschen Diktatur. Dies sind 250 000 politische Gefangene, dies sind die Mütter von zwangsadoptierten Kindern, dies sind Tausende Opfer von ungerechtfertigten Heimeinweisungen, dies sind Hunderttausende gebrochene Lebensbiografien und seelische Verletzungen, die nicht heilbar sind.

Wenn man das verinnerlicht, dann ist uns allen, glaube ich, bewusst, dass wir noch eine weitere Aufgabe vor uns haben. Wir wollen uns viele der Vorschläge, die Sie unter anderem in der Anhörung unterbreitet haben und uns nun teilweise seit Monaten und Jahren immer wieder ins Stammbuch bzw. Geschichtsbuch schreiben, noch einmal sehr genau anschauen. Das will ich Ihnen an dieser Stelle versprechen und zusagen.

Ein letzter Punkt. Wir werden unmittelbar im Anschluss die Wahl des Stasi-Unterlagen-Beauftragten durchführen. Roland Jahn sitzt auch auf der Tribüne. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen!

(Beifall)

Ich für meinen Teil will sagen, dass wir uns sehr freuen, dass Sie für eine zweite Amtszeit zur Verfügung stehen, dass wir glauben, dass wir in Ihnen einen international und vor allen Dingen auch in Deutschland über die Par­teigrenzen hinweg anerkannten Stasi-Unterlagen-­Beauftragten haben. Ich freue mich, dass Sie die Arbeit der Kommission und den Reformprozess grundsätzlich positiv begleiten und auch dafür zur Verfügung stehen, den Prozess der Zusammenlegung von Bundesarchiv und Stasi-Unterlagen-Behörde, wie wir es in unserem Antrag niedergelegt haben, zu begleiten. Unsere Stimmen haben Sie dafür.

Wir freuen uns, wenn Sie an Ihre Redezeit denken.

Meine Redezeit ist zu Ende; das ist mir klar.

Schon lange, ja.

Ich wünsche mir – das soll mein letzter Satz sein –, dass wir eine ähnlich breite parlamentarische Mehrheit haben wie beim letzten Mal, weil das, glaube ich, ein erster großer Schritt einer vertrauensbildenden Maßnahme bei den Opfern wäre.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich möchte die Kollegen und Kolleginnen bitten, wenn Ihnen klar ist, dass die Redezeit zu Ende ist, dann auch zum Ende der Rede zu kommen. Vielen Dank.

Nächster Redner: Stefan Liebich für die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/6908373
Wahlperiode 18
Sitzung 176
Tagesordnungspunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur
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