30.11.2016 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 205 / Zusatzpunkt 1

Karl-Heinz BrunnerSPD - Aktuelle Stunde zur Lage in Aleppo und Syrien

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Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Mit manchen Tageszeitungen könnte man sagen: Nun ist also auch der Ostteil der Stadt in den Händen des Regimes, in den Händen Assads. Die Zeitungen sind voll mit Nachrichten darüber. Es wird kolportiert – wir haben das heute in der Debatte auch schon gehört –, dass wir uns nur empören, Kriegsverbrecher anprangern, mit weit geöffneten Augen durch die Talkshows ziehen, Schuld, Verantwortung und das Warum definieren und dann angeblich die Menschen vor Ort hilflos, obdachlos, perspektivlos zurücklassen und nichts tun. Nichts von dem ist wahr; denn die Bundesrepublik Deutschland, die Außenpolitiker der Bundesrepublik und unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier, ist ununterbrochen im Einsatz, um den schrecklichsten Bürgerkrieg, den man sich vorstellen kann, der in einer näheren Region herrscht, diplomatisch zu lösen – ein Krieg, der über 400 000 Tote gefordert hat und 11 Millionen Menschen heimatlos gemacht hat, ein Krieg, der sich, meine Kolleginnen und Kollegen, eben nicht auf Begriffe wie „Assad gegen das Volk“, „Putin für Assad“, „der Iran gegen die Sunniten“ oder „die USA und die Koalitionäre gegen Daesh“ reduzieren lässt.

Mir ist persönlich ist zum Heulen, wenn ich die Hilflosigkeit der Menschen vor Ort sehe. Und ich verstehe ihre Situation, ihren Wunsch, den wir auch vor Ort verspüren: nur noch weg! – Was sollen sie auch tun, wenn sie überlebt haben? Es gibt wegen der gezielten Zerstörung von Krankenhäusern keine medizinische Versorgung. Wer Glück hat, findet noch eine der letzten existierenden Notkliniken in Kellern, in Löchern. Eine wirkliche medizinische Versorgung ist das jedoch nicht. Ärzte und andere Zivilisten, die in Ost-Aleppo geblieben sind, müssen Verhaftungen durch das Regime befürchten. Denn wie soll bei rund 1 200 unterschiedlichen Rebellengruppen noch zwischen Kämpfern und Zivilisten, zwischen guten Rebellen und Daesh, zwischen Kriminellen und anderen Menschen unterschieden werden?

Die Menschen, die heute fliehen, befürchten Racheakte des Regimes; sie fürchten Folter und Tod entweder durch Assads Regime selbst oder durch den Daesh oder wen auch immer. Und wir müssen – so wie Ferdinand Lassalle es einmal sagte – das aussprechen, was ist. Und wir können nicht abwarten und zuschauen, sondern wir müssen weiterhin für eine diplomatische Lösung, so wie dies Frank-Walter Steinmeier, unser Außenminister, bereits macht, den Weg bereiten – für die Menschen zwischen den Fronten, deren Lebensmittelvorräte aufgebraucht sind, deren Wasserversorgung zusammengebrochen ist, deren Häuser und Straßen in der gesamten Stadt zerstört sind.

Nicht zuletzt müssen wir das mit der Versorgung verbundene Risiko für uns und für die Menschen mit einpreisen. Es ist viel zu kurz gesprungen, sich für die vermeintlich schnelle und einfache Lösung der Versorgung über Airdrops auszusprechen und sie der Lösung der Versorgung über den Landweg gegenüberzustellen, wenn man weiß, dass die Vereinten Nationen nach umfangreicher Prüfung festgestellt haben, dass das Angriffsrisiko dabei zu hoch ist.

Ich weiß: Wir, die wir hier im beheizten Reichstagsgebäude sitzen, können uns nicht vorstellen, was die Menschen dort vor Ort erleben. Ich war gestern Abend bei der von der Kollegin Finckh-Krämer erwähnten Veranstaltung zum Alternativen Nobelpreis, bei der die Vertreter der Syria Civil Defense, der sogenannten Weißhelme, von ihrer Arbeit berichtet haben. Ich gebe ganz offen zu, dass mich ein Satz nicht loslässt – es war der letzte –: Bitte unterstützt uns, bitte helft uns!

Der UN-Sicherheitsrat tagt am heutigen Mittwoch zur humanitären Notlage in Aleppo. Er befasst sich damit. Es wird also nicht nichts getan.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat doch niemand gesagt!)

Der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura wird die Weltgemeinschaft über die Situation in Aleppo informieren. Der französische UN-Botschafter warnt, dass das Kriegsgeschehen in der Stadt zum schlimmsten Massaker an der Zivilbevölkerung seit dem Zweiten Weltkrieg werden könnte. – Deshalb muss dieser Krieg beendet werden. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags hat heute grünes Licht gegeben, das Kriegsstrafrecht zu verschärfen. Das ist gut, das ist richtig. Der Auswärtige Ausschuss dokumentiert die Menschenrechtsverletzungen dort. Wir dürfen nämlich nicht schweigen, sondern wir müssen sie klar und deutlich benennen.

(Beifall bei der SPD)

Das alles ist gut und richtig. Jedoch frage ich mich: Wie können wir unserer Verantwortung insgesamt gerecht werden? Denn es geht jetzt nicht um Recht, um Macht und um Einfluss, sondern es geht um die Menschen. Internationale Hilfslieferungen müssen von der syrischen Regierung und auch von Russland wieder zu den Menschen durchgelassen werden, und das geht nur, wenn man redet, und zwar mit jedem, auch mit denjenigen, mit denen man lieber nicht reden würde.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, man muss auch den Partner Türkei in die Verantwortung nehmen. Deshalb hier die klare Aufforderung an die Türkei: Kümmern Sie sich um den Kampf gegen den IS in Syrien! Treiben Sie den Finanziers die Gedanken aus dem Kopf, damit die völkerrechtswidrigen Luftangriffe im Norden Syriens endlich beendet werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Licht am Rednerpult leuchtet auf. Meine Zeit, die mir gegeben ist, ist zu Ende.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber nur die Redezeit, Herr Kollege! Nur die Redezeit!)

– Ja, nur die Redezeit. Stimmt! – Nichtsdestotrotz möchte ich einen Gedanken an die Zukunft gerichtet formulieren. Wir haben den Wiederaufbau des Landes aus den Augen verloren. Wir werden für die Wiederbesiedlung Vorbereitungen treffen. Die Frage ist: Welche Hilfe müssen wir durch unsere Peacekeeper leisten? Lasst uns darüber reden, wie wir Leib und Leben unserer Entwicklungshelfer und dann auch der Heimkehrer schützen können, und zwar in einer Region, die es wert ist, wieder mit Menschen besiedelt zu werden.

Interessanter Versuch, Kollege, aber Sie müssen jetzt einen Punkt setzen.

Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat der Kollege Michael Brand für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7038313
Wahlperiode 18
Sitzung 205
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zur Lage in Aleppo und Syrien
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