23.03.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 225 / Tagesordnungspunkt 9 + ZP 4

Sylvia Kotting-UhlDIE GRÜNEN - Europaweiter Atomausstieg

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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! 60 Jahre Römische Verträge, 60 Jahre Euratom: Das eine ist Grund für eine Feier und Anlass, für und um die Weiterentwicklung der EU zu kämpfen, das andere ist die Restekiste einer vergangenen Zeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Ich will Ihnen darlegen, warum das so ist. Euratom setzt das Ziel „Entwicklung einer mächtigen Kernindus­trie“, begründet die ausschließliche Souveränität der Länder bei der Sicherheit ihrer Atomkraftwerke und sichert die staatlichen Beihilfen bei Neubauten von Atomkraftwerken wie Hinkley Point und Paks.

Frau Lanzinger, ich will gerne die Begründung zitieren, auf die sich die Kommission bei der Bewilligung dieser staatlichen Beihilfen gestützt hat. In Artikel 2 Buchstabe c Euratom-Vertrag heißt es: Die Mitgliedstaaten haben „die Investitionen zu erleichtern und, insbesondere durch Förderung der Initiative der Unternehmen, die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen, die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemeinschaft notwendig sind“. – So weit der Euratom-Vertrag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist das was Schlimmes?)

Euratom ist intransparent und undemokratisch. So hat das EU-Parlament keine Hoheit über das Euratom-Budget. Die finanzielle Ausrichtung der europäischen Energieforschung wird von Euratom gesteuert. Nach der Logik von Euratom muss sich das Atomkarussell weiterdrehen. Das heißt Kernfusion, Thoriumforschung, SMRs. Hauptsache, das Ziel von Euratom, die mächtige Kernindustrie, wird am Leben erhalten.

Auch das Ausstiegsland Deutschland beteiligt sich – durch seine EU-Beiträge – selbstverständlich an diesen Forschungen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sind wir Teil der Europäischen Union oder nicht?)

Dass der Neubau von AKWs und Anlagen zur Erforschung der Kernfusion in Olkiluoto, Flamanville, Cadarache – das ist der ITER – ökonomische Desaster sind, spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Das alles nehmen Sie in Kauf, weil Sie Euratom – ich zitiere die Bundesregierung – „als geeignete Rechtsgrundlage für … Sicherheitsforschung, internationale Kooperation“ und „nukleare Sicherheit“ ansehen.

(Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Irre!)

Selbst wenn Euratom das wäre, könnte man fragen, ob das den Preis rechtfertigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Euratom ist das aber nicht. Ich wurde vor kurzem gefragt, ob es nicht gut sei, dass es durch Euratom eine europäische Atomaufsicht gebe. Das ist aber gerade nicht der Fall. Es gibt keine europäische Atomaufsicht. Das Ziel von Euratom ist Investition in Atomkraft und nicht deren Begrenzung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Selbst heutige auf der Basis von Euratom beruhende Richtlinien der EU folgen der antiquierten Vor-Tschernobyl-und-Fukushima-Logik. Nehmen Sie zum Beispiel die Sitzung des Umweltausschusses gestern. Herr Kanitz wird sich erinnern: Es ging um die AtG-Novelle, die die EU-Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit umsetzt. Darin steht: Anlagen sollen „so weit wie vernünftigerweise durchführbar“ verbessert werden. Hallo? Wir reden von alternden Schrottreaktoren an unseren Grenzen wie Tihange, Cattenom und Fessenheim.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn hier bei der Sicherheit nach dem Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr nachgerüstet werden kann, entweder weil es sich – so meint das Euratom hauptsächlich – wirtschaftlich nicht mehr rechnet oder weil die Anlagen schlicht zu alt sind, dann müssen die betreffenden Atomkraftwerke abgeschaltet werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Aber nicht, solange wir Euratom haben. Dann laufen die Schrottreaktoren so lange, wie die Betreiber und die Länder, denen die Atomkonzerne oft genug gehören, das wollen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen gemeinsam für die EU kämpfen und sie verbessern. Wir wissen: Die EU muss die Klimakrise, die Wirtschaftskrise und die Abhängigkeit von Energieimporten überwinden. Dazu muss von Deutschland aus für eine europäische Energiewende gearbeitet werden. Euratom ist hier ein Klotz am Bein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Wir können diesen Klotz drehen und wenden, aber er wird kein Schwungrad für eine zukunftsfähige Energieausrichtung werden. Das Ausstiegsland Deutschland muss hier initiativ werden. Nehmen wir, Nina Scheer, den zutiefst bedauerlichen Brexit, der auch den Austritt Großbritanniens aus Euratom bedeutet, zum Anlass, endlich einen Euratom-Konvent zu fordern. Werben wir in der EU dafür, Euratom endlich den Anforderungen von heute anzupassen!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das hieße vor allem, die Sonderförderung der Atomkraft zu beenden, ein Mitspracherecht für Anrainerstaaten bei grenznahen Atomkraftwerken zu verankern, die europäische Energieforschung auf die Zukunft auszurichten und die demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament zu ermöglichen. Wenn das mit den Partnern in der EU nicht zu machen ist, dann müssen wir das Kreuz haben, Euratom zu verlassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Das stellt, Frau Lanzinger und andere, unser Bekenntnis zu Europa nicht infrage,

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!)

sondern nur das in Euratom festgeschriebene Bekenntnis zur Vorstellung von Atomkraft als eine Beglückung der Menschheit, die zu Gesundheit und Wohlstand führt. Diese Vorstellung hatte ihre Berechtigung vielleicht vor Tschernobyl und Fukushima. Heute ist sie von gestern. Wir müssen uns aber für morgen aufstellen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Wort hat der Kollege Steffen Kanitz für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7089636
Wahlperiode 18
Sitzung 225
Tagesordnungspunkt Europaweiter Atomausstieg
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