17.05.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 233 / Tagesordnungspunkt 6

Rainer SpieringSPD - Berufsbildungsbericht 2017

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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin Wanka! Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich sehe, es sind eine Menge junger Leute da. Das finde ich ausgesprochen begrüßenswert. Es geht ja um sie.

Den Berufsbildungsbericht 2017 kann man mit folgenden Worten überschreiben: Nichts Neues aus dem Berufsbildungsbereich. Beruhigend, zufriedenstellend? Für mich eher ernüchternd. Wir treten auf der Stelle. Ministerien haben bekanntlich ein bestimmtes Beharrungsvermögen. Bei der Berufsbildung stimmt das für das Bildungsministerium auf jeden Fall. Ich finde es erstaunlich, dass es in den letzten drei Jahren so wenig Bewegung gab.

Lassen Sie mich kurz etwas zum BBiG sagen. Die Berufsbildung ist ein lebendiger Bereich, bewegt sich schneller als viele andere Bereiche und bedarf deswegen der Anpassung. Wir befinden uns in einem Interessenskonflikt der unterschiedlichen Beteiligten: der Handwerkskammern, der IHK und der Gewerkschaften. Auch unsere eigenen Interessen kommen hinzu. Weil wir diesen Interessenskonflikt nicht aushalten, sind wir an die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes nicht herangegangen. Diesen Kampf haben wir nicht ausgefochten und damit jungen Menschen eine Perspektive verwehrt, die sie unbedingt brauchen.

(Beifall bei der SPD)

Wir hätten, glaube ich, im Berufsbildungsgesetz mehrere Fragen beantworten können: Rechtsstellung des Ehrenamtes bzw. Freistellung für das Ehrenamt, Durchstiegsmöglichkeiten von zwei- und dreieinhalbjähriger Ausbildung, Korrektur der Berufsschulzeit mit Blick auf über und unter 18-Jährige und – das wurde eben schon angesprochen – Regelung des dualen Studiums. Da hätten wir etwas tun müssen, weil das duale Studium für viele wirklich eine Zukunftsperspektive darstellt. Vertane Zeit, vertane Chancen und Probleme für die Zukunft!

Im Sinne von jungen Menschen, dem Staat, unseren Interessen und den wirtschaftlichen Interessen müssen wir uns von Partikularinteressen lösen. Wir haben mehrere Problemfelder im Bereich der Berufsbildung. Auf der einen Seite haben wir ein Fachkräfteproblem. Das ist real vorhanden. Das schädigt uns als Standort. Auf der anderen Seite haben wir das Problem, dass wir viele junge Menschen nicht dahin bringen können, wo sie mit ordentlicher Arbeit ordentlich Geld verdienen können und sich so selber ernähren können. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.

Man muss deutlich sagen, Frau Ministerin: Wenn man sich mit den realen Zahlen auseinandersetzt, dann werden auch Sie feststellen, dass sich die Großindustrie in den vergangenen 20 Jahren deutlich stärker aus der Ausbildung verabschiedet hat, als es die Handwerks- und mittelständischen Unternehmen gemacht haben.

Dazu werde ich eine Zahl nennen. Die Ausbildungsquote lag vor 30 oder 40 Jahren bei großen Industrieunternehmen noch zwischen 5,5 und 7 Prozent. Heute können Sie froh sein, wenn die Ausbildungsquote bei VW bei 3 Prozent liegt. Das hat ganz klare Auswirkungen. Den großen Betrieben fehlt nämlich das Facharbeiterreservoir, das sie dringend brauchen. Auch fehlt die Entlastung des Arbeitsmarktes. Ich bin mir sicher: Wenn wir den Ausbildungsmarkt besser steuern würden – Stichwort „Schweinezyklus“ –, dann hätten wir deutlich bessere Möglichkeiten.

In den Jahren 2003, 2004 und 2005 haben junge Leute händeringend Ausbildungsplätze gesucht. Ihnen ist gesagt worden: Ihr seid nicht ausbildungsfähig, ihr seid nicht ausbildungswillig. – Dann hat man die Leute vor der Tür stehen lassen. Daraufhin haben wir das Übergangssystem entwickelt und, und, und. Das hat der Staat zwar gut gemacht, aber ich muss auch deutlich an die Verantwortung der Industrie erinnern: Das sind die Arbeitskräfte, die ihr braucht. Ihr braucht sie für euren Fortbestand. Dafür müsst ihr auch etwas tun.

(Beifall bei der SPD)

Lassen Sie mich das mit einer Zahl unterlegen. Es gibt eine bemerkenswerte Studie der IG Metall. In der wird beschrieben, dass die Ausbildungsquote in Deutschland im Maschinenbau 6,5 Prozent beträgt. Das ist eine ordentliche Zahl. Die IG Metall sagt: Wenn alle der uns angeschlossenen Industriebetriebe im Metall- und Elektrobereich mit der Quote ausbilden würden, dann müssten sie 60 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Ich finde, aus der Verantwortung dürfen wir die Industrie nicht entlassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dasselbe gilt übrigens für Banken und Sparkassen wie natürlich auch für uns, die öffentliche Hand. Wir alle bilden deutlich weniger aus, als wir könnten.

Ich halte es übrigens für ausgesprochen gefährlich, Frau Hein, zu sehr auf die außerbetriebliche Ausbildung zu setzen. Ich war gerade mit anderen Ausschussmitgliedern in Israel und Jordanien, und wir wurden gefragt, wie wir das in Deutschland machen. Gerade die Komplexität des praktischen Tuns am Ausbildungsplatz mit der Ausbildung in der Schule ist weltweit einzigartig.

Deswegen kann ich nur dazu auffordern, alles zu tun, um junge Menschen wie auch immer in Ausbildungsbetriebe zu bringen. Wenn wir Betriebe dabei unterstützen müssen, dann mögen wir dies tun. Aber ich sage noch einmal: Wir können die großen und mittleren Betriebe nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Es kann nicht sein, dass ein Handwerker in der Region Wolfsburg, wo VW angesiedelt ist, das Nachsehen hat, weil VW 4 Euro pro Stunde drauflegt. Das ist nicht in Ordnung, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Da hat VW das Sagen! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie verändern wir denn das?)

– Dazu komme ich jetzt.

Die Kernkompetenz der dualen Berufsausbildung bietet vor allem – darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen; das ist, wie Sie wissen, das Steckenpferd, auf dem ich gerne herumreite – die Berufsschule. Ich habe mich mit der Ausbildung bei VW beschäftigt: Sie ist phänomenal. Ich war so begeistert. Mehr geht nicht. Das kann ein kleiner Handwerksbetrieb nicht leisten. Es gibt nur eine Einrichtung, die man dazu befähigen kann, und zwar die Berufsschule.

Frau Wanka, an diesem Punkt bin ich nicht bei Ihnen: Wenn Sie jetzt dabei sind, länderübergreifend etwas zu tun, dann finde ich das zwar gut. Aber die Bundesrepublik Deutschland ist mit der Kraft ihres Geldes in der Verantwortung, dem Berufsbildungsbereich bzw. den Berufsschulen deutlich mehr Mittel zuzuführen, und zwar nicht nur im IT-Bereich, sondern auch für die technische Ausstattung, die Raumausstattung und vor allem für die Ausbildung der Berufsschullehrer, dem Herzblut der Schule. In dem Bereich sind wir nach dem, was ich beobachtet habe, in den letzten vier Jahren schlecht gewesen.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: Da müssen wir über die Länder reden, oder?)

– Da müssen wir nicht über die Länder reden, Kollege. Wir sind zuständig, Stichwort BBiG, Berufsbildungsgesetz. Wir haben das Geld.

Sie werden das übrigens merken. Alle, die aus Nordrhein-Westfalen kommen, werden ab morgen umdenken. Sie werden nämlich auch den Bund in Anspruch nehmen, und zwar mit Recht. Das ist eine Aufgabe, die nur der Staat im Ganzen stemmen kann. Es ist eine Riesenaufgabe.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf die Autonomie der Universitäten hinweisen. Es kann keine Anweisung eines Kultusministers an eine Universität geben, etwas zu tun. Denn wir haben die Autonomie der Universitäten, und wir können nur durch großangelegte Bemühungen um entsprechende Pakte versuchen, die Universitäten davon zu überzeugen, diesen Bereich zu stärken.

„Was ist zu tun?“, haben Sie mich gefragt. Ich habe mir heute Morgen ebenfalls diese Frage gestellt. Ich habe eine begabte Tochter – hoffentlich bekomme ich jetzt zu Hause keinen Ärger –, die mittlere Reife gemacht hat und die dann über den zweiten Bildungsweg in Bibelwissenschaften promoviert hat. Hätte ich ihr nach der mittleren Reife empfehlen sollen, eine Ausbildung zur Friseurin zu machen?

Ich glaube, das berufliche Bildungssystem ist auch deshalb in einer Schräglage, –

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit.

– weil unsere Angebotssituation auch in den tarifären Bereichen für die jungen Leute nicht gut genug ist. Das heißt, wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Angebotssituation für die jungen Leute in den Betrieben es ihnen schmackhaft macht, in die Betriebe zu gehen.

Ein Abschlussbeispiel.

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Es ist keine Zeit mehr für Abschlussbeispiele.

Ein Abschlussbeispiel: Eine examinierte Krankenschwester in der Schweiz bekommt als Absolventin 4 000 Franken Gehalt. Ich glaube, wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die Absolventinnen und Absolventen unserer Berufsausbildungssysteme auch einen Anspruch auf ordentliche und faire Entlohnung haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste spricht die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7110637
Wahlperiode 18
Sitzung 233
Tagesordnungspunkt Berufsbildungsbericht 2017
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