Anja HajdukDIE GRÜNEN - Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Für diese Reform, die wir heute beschließen, sind schon große Worte gewählt worden: Sie sei historisch, sei möglicherweise eine Jahrhundertreform. Und tatsächlich: Es steht heute an, das Grundgesetz 13-mal zu ändern. Das ist etwas Besonderes. Wir entscheiden hier über nichts Geringeres als über die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern mindestens bis zum Jahr 2030. Das heißt, was wir heute hier beschließen, wird mehr oder weniger für die nächsten 15 bis 20 Jahre gelten. Es ist auch gesagt worden, neue Rahmenbedingungen, die wir zum Beispiel für die Länder haben, nämlich die Schuldenbremse ab 2020 einzuhalten, machen es erforderlich, dass insbesondere die Länder Planungssicherheit bekommen.
Aber wenn man eine solche Reform macht, muss man sich dann nicht auch fragen: Was sind eigentlich die großen Herausforderungen in den nächsten 20 Jahren? Was sind die absehbaren Veränderungen in den 20er-Jahren dieses Jahrhunderts? – Das sind einerseits die demografischen Veränderungen und die damit verbundenen Umbrüche sowie andererseits der sozialräumliche Wandel; wir haben eine immer stärkere Spreizung zwischen armen und reichen Regionen. Eine solche Analyse hätte der Ausgangspunkt für Reformüberlegungen im Rahmen einer Föderalismuskommission in dieser Legislaturperiode sein müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich hätte gerne als Mitglied des Bundestages die Gelegenheit gehabt, mit den Ministerpräsidenten der Länder über diese Herausforderungen zu diskutieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber was hat die Große Koalition entschieden? Sie hat stattdessen entschieden: Sollen sich doch erst einmal die 16 Ministerpräsidenten an einen Tisch setzen, sich einigen und ihre materiellen Interessen ausbalancieren. Ins Zentrum der Verhandlungen ist vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen doch tatsächlich die Aufgabe gesetzt worden: Verteilt doch mal den Kuchen unter euch neu. – Das war keine große Kunst, weil derjenige, der das bezahlen soll, erst später dazukam, nämlich der Bund.
Bei der Verhandlung der Ministerpräsidenten ist als Kern der Reform Folgendes herausgekommen: Sie ändern den Artikel 107 GG und schaffen den Länderfinanzausgleich im eigentlichen Sinne ab. Den Ausgleich zwischen starken und schwachen Ländern soll man am besten gar nicht mehr sehen. Er soll verschwinden, und er wird gekappt. In Zukunft wird es eine geringere Solidarität zwischen den Ländern geben. Übernehmen wird diese Aufgabe jetzt der Bund.
Ich kann sagen: Für meine Heimatstadt Hamburg, Herr Bürgermeister Scholz, ist das kein schlechter Deal. Aber das kann für mich nicht der Maßstab sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist ein gutes Geschäft für die starken Länder. Alle Experten in der Anhörung, auch die Experten der Regierungsfraktionen, haben gesagt: Diese Reform hilft ab 2020 insbesondere den starken Ländern; die werden im Vergleich zu den finanzschwachen Ländern stärker profitieren; die Spreizung wird zunehmen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie oft haben wir im vergangenen Winter und in diesem Frühjahr über die Gefahr geredet, dass sich bestimmte Regionen abgehängt fühlen, was auch ein demokratisches Problem ist, und die Infrastruktur in bestimmten Regionen unseres Landes nicht mehr gesichert ist? Und in einer solchen Situation beschließen wir eine Reform, die die Starken stärker macht und die Schwachen schwächer.
Die Folge davon ist – das hat der Finanzminister gestern im Haushaltsausschuss eingeräumt –, dass der Ausgleich für die finanzschwachen Länder jetzt vom Bund kommen muss. Das liegt jetzt beim Bund. Liebe Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen, dazu kann man sagen: 16 : 0. Wenn man das so macht, dann bekommt der Bund nicht nur die Verantwortung für die Finanzierung der schwachen Kommunen und der schwachen Regionen, sondern damit müssen und werden – das dürfte niemanden wundern – auch größere Kontrollrechte des Bundes, auch unseres Parlamentes einhergehen. Deswegen werden wir diesen Kontrollrechten zustimmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Bettina Hagedorn [SPD])
Man kann es auch anders sagen: Wenn sich bei dem Setting 16 : 0, das Sie immer verteidigen, bei so einem Beschluss die Starken durchsetzen, wird eine Bewegung in Gang gesetzt, die dazu führt, dass die schwächeren Länder in stärkere Abhängigkeit vom Bund geraten. Sie werden in diese Abhängigkeit regelrecht hineingetrieben. Dass dies von den Ministerpräsidenten, in der Regel bekennende Föderalisten, so beschlossen wurde, kann ich nicht nachvollziehen. Ich erkenne darin keine Stärkung und keinen selbstbewussten Föderalismus. Deswegen wird meine Fraktion die Änderung des Artikels 107 GG ablehnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte noch auf zwei weitere Punkte eingehen:
Erstens. Wir haben die große Zukunftsaufgabe, unsere Gesellschaft in Sachen Bildung richtig stark aufzustellen. Zitat:
Bund und Länder können auf der Basis von Vereinbarungen zur Sicherstellung der Leistungsfähigkeit und der Weiterentwicklung des Bildungswesens zusammenarbeiten.
Was ist an diesem Satz eigentlich so schlimm? Das ist es, was wir beantragen. Das heißt, das Kooperationsverbot soll aufgehoben werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir beantragen nicht, dass die Schulpolitik, ob in Baden-Württemberg oder in Hamburg, durch den Bund geregelt werden soll; das hielte ich für großen Quatsch. Aber warum darf es keine Zusammenarbeit bei der größten Zukunftsaufgabe geben, die wir auch in den nächsten Jahren vor uns haben?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Will hier jemand leugnen
(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, Kretschmann! – Johannes Kahrs [SPD]: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der leugnet!)
– ja, habe ich ja auch erwähnt; ich bin da nicht so ängstlich –,
(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst mal zuhören!)
dass wir das Ganztagsschulangebot, das wir heute haben, und den Ausbau der Kitaplätze ohne Unterstützung des Bundes wohl kaum geschafft hätten? Nein, das hätten wir nicht geschafft.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Da sind wir uns mit der SPD einig. Aber dann muss man doch einfach mal zur Kenntnis nehmen, dass Zusammenarbeit der Bildung nützt. Heute werden wir das Kooperationsverbot leider nicht gänzlich abschaffen; aber wir werden den kleinen Schritten in Richtung Öffnung des Kooperationsverbotes am Ende natürlich zustimmen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
im Interesse der Aufgabe. Dann bleibt in der Verantwortung der Länder noch genug zu tun.
Ein weiterer, sehr zentraler Punkt der Auseinandersetzung, über den die Koalition sehr intensiv gestritten hat, ist das Thema der Gründung einer Infrastrukturgesellschaft. Wir Grünen sehen es in der Tat so, dass zum Schluss durch die Änderungen seitens der Bundestagsfraktionen, insbesondere auch durch den Einsatz der Kollegin Hagedorn und des Kollegen Brackmann, wirklich etwas Positives erreicht wurde
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
und damit einige Lücken geschlossen und einige Gefahren im Hinblick auf eine zukünftige Privatisierung gebannt werden. Aber ich sage Ihnen auch: Uns reicht das nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir Grüne haben uns sehr genau überlegt, wo man etwas im Grundgesetz regeln muss und wo nicht, welche Detailverliebtheit ein Grundgesetz verträgt und welche Grundgesetzschranken wir vorsehen müssen, wenn wir eine neue Öffnung zulassen. Wenn wir – und wir Grünen sind dafür – eine Infrastrukturgesellschaft gründen und die Bundesautobahnen in die Verantwortung des Bundes überführen wollen, dann sind wir nicht nur dafür verantwortlich, eine neue Öffnung ins Grundgesetz zu bringen, sondern auch dafür verantwortlich, genau zu entscheiden, wo diese Öffnung endet und wo die Grenzen sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist eine tiefe Überzeugung; das sage ich auch zu dem Abgeordneten Lammert aus Bochum. Wir haben da eine sehr schlanke Formulierung gefunden, mit der man dauerhaft grundgesetzlich verhindern kann, dass in ein, zwei, drei, vier Jahren doch eine Aktiengesellschaft entsteht und damit die Kontrollrechte des Bundestages nicht mehr gewährleistet sind.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben eine sehr schlanke Formulierung dafür gefunden: Der Dritte darf nicht durch Private finanziert werden, und die Bundesrepublik Deutschland haftet für die Verbindlichkeiten dieses Dritten. – Das heißt, wir wollen keine teure Fremdfinanzierung dieser Gesellschaft in ein, zwei Jahren haben, wenn es eine neue Regierungsmehrheit vielleicht vorsieht. Das sind Verfassungsschranken, die ich angemessen finde. Also haben wir eine bessere Formulierung vorgelegt.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich wäre glücklich, wenn Sie sie unterstützen könnten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein kleiner Hinweis zur Verfassungsästhetik. Verrückt ist natürlich, dass wir bei der Gemeindeverkehrsfinanzierung sagen: Eine Änderung der Verkehrsfinanzierung darf der Bund erst ab dem 1. Januar 2025 vornehmen. Ich finde, da wird die Verfassungsästhetik gebrochen. So ein Satz gehört gestrichen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Fazit: Wir werden heute bei den 13 Grundgesetzänderungen neunmal zustimmen, weil auch gute Dinge im Paket enthalten sind. Dem entziehen wir uns nicht. Wir werden aber auch viermal ablehnen; ich habe es gerade begründet. Das ist eine große Reform an Masse, aber leider nicht an Klasse. Es gibt einen großen Mangel an Weitsicht im Hinblick auf die Herausforderungen in den kommenden 20er-Jahren. Aber in Teilen ist diese Reform im Sinne der Planungssicherheit der Länder notwendig. Wir wissen genau, wo wir Ja sagen, wir wissen genau, wo wir Nein sagen. Wir werden uns am Ende, beim Gesamtpaket, enthalten, aber vorher differenziert abstimmen.
Schönen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Für die Bundesregierung hat nun der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7114762 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 237 |
Tagesordnungspunkt | Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs |