28.06.2017 | Deutscher Bundestag / 18. WP / Sitzung 242 / Tagesordnungspunkt 3

Franz ThönnesSPD - Östliche Partnerschaft der Europäischen Union

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union ist das größte Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts auf unserem Kontinent. Generationen wie die meine konnten erstmalig auf deutschem Boden über so eine lange Phase ohne Krieg leben und aufwachsen. Das ist ein politischer Erfolg, der uns immer wieder mahnen muss, sich für die Stabilität und die Weiterentwicklung der Europäischen Union einzusetzen. Politik für ein starkes und einiges Europa ist aktive Friedenspolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Wurzeln für die Östliche Partnerschaft der Europäischen Union liegen in Artikel 8 ihres Vertragswerks. Dieser verpflichtet, besondere Beziehungen zu den Nachbarn der EU zu entwickeln, „um einen Raum des Wohlstandes und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“.

Integriert ist sie in die europäische Nachbarschaftspolitik, die mit dazu beitragen soll, dass ein stabiles und prosperierendes Umfeld von Nachbarstaaten rund um die Europäische Union entstehen soll. Dazu sollen Hilfen für Transformation, Modernisierung und Demokratisierung gegeben werden, ohne eine Beitrittsperspektive zu beinhalten. Es ging und geht hier um die Länder Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und die Ukraine.

Die unabhängig gewordenen postsowjetischen Länder verfügen erfreulicherweise über differenziert ausgeprägte zivilgesellschaftliche Bewegungen sowie Reformkräfte. Gleichzeitig zeichnen sie sich ebenso dadurch aus, dass in Bezug auf die notwendigen Transformationsprozesse unterschiedliche, aber doch gewisse starke Beharrungsvermögen existieren. So gibt es partiell mangelnden politischen Willen, die Reform anzugehen. Zu sehr sind manche Gesellschaften durch ihre geschichtliche Entwicklung immer noch von egozentrischen Geschäfts- und Machtinteressen beeinflusst, und zu gering sind die Kapazitäten zur Konsens- und Kompromissfindung, zur Schaffung von Demokratie und zur Versöhnung ausgeprägt.

Es bestehen unterschiedliche außenpolitische Ziele, und wahrscheinlich war es auch ein Fehler seitens der EU, am Anfang eine Politik des „One size fits all“ – also ein Maß passt für alle – zu praktizieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Während die westliche Staatengemeinschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach der Pariser Charta von festen Grenzen in Europa ausging, betrachteten die Regierenden in Russland diese Bereiche als ihre Einflusssphäre. Das führte zunehmend zu den Spannungen und Auseinandersetzungen, die wir heute erleben.

In Brüssel und der politischen Klasse scheint einiges an Realitäten bei der Östlichen Partnerschaft ausgeblendet worden zu sein. Die Länder der Östlichen Partnerschaft sind nicht nur die Nachbarn Europas; sie sind auch die Nachbarn Russlands, und Russland ist Europas größter Nachbar.

Wer gute Nachbarschaft will, hat dies bei der Entwicklung und Umsetzung der Östlichen Partnerschaft zu berücksichtigen. Das gilt umgekehrt aber auch für das Selbstbestimmungsrecht der freigewordenen Völker und Staaten.

Was sind diese Realitäten? Da ist einmal die hohe Zahl der Gastarbeiter aus den sechs Partnerschaftsländern in Russland. Je nach Land handelt es sich dabei um 200 000 bis über 2 Millionen Menschen, die mit einem erheblichen Teil ihrer Rücküberweisungen in ihre Heimatländer zu deren Bruttoinlandsprodukt und Wirtschaftsleistung beitragen. Häufig ist Russland zentraler Handelspartner. Manchmal sind nicht zu unterschätzende Investitionen von Firmen in Schlüsselindustrien in diesen Ländern vorhanden.

Hinzu kommen ungelöste Konflikte wie zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach, in Georgien mit Abchasien und Südossetien, in Moldau mit Transnistrien und im Osten der Ukraine sowie mit der Krim. Auch gilt es die unterschiedliche Präsenz von 1 400 über 8 000 bis zu 10 000 russischen Soldaten in einigen dieser Länder zu sehen.

Armenien und Belarus sind inzwischen Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion. Aserbaidschan hat einen derartigen Beitritt abgelehnt, will aber auch kein Assoziierungsabkommen mit der EU.

Belarus dagegen betont ein Interesse an einem Rahmenvertrag mit der EU. Bisherige Treffen und Verabredungen zu einzelnen Reformprozessen im Wahlrecht und bei den Menschenrechten sind ohne größeren Erfolg geblieben. Die Frühjahrsproteste, die in Belarus gegen das sogenannte Schmarotzergesetz stattgefunden haben, sind mit Repressionen beantwortet worden. Nach wie vor werden Todesurteile vollstreckt, sodass es erneut von dieser Stelle aus gilt, Staatspräsident Lukaschenko zuzurufen: Entfernen Sie die Todesstrafe aus Ihren Gesetzen! Nehmen Sie Abstand von dieser Unmenschlichkeit inmitten Europas!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Binder [DIE LINKE])

Georgien, Moldau und die Ukraine haben inzwischen Assoziierungsabkommen mit einer vertieften und umfassenden Freihandelszone mit der EU geschlossen. Inzwischen gilt auch die Visaliberalisierung.

Georgien scheint bei Wahlen, Pressefreiheit, Minderheitenrechten und bei der demokratischen Konsolidierung auf einem guten Weg zu sein. Pragmatisch stabilisiert es die Handelsbeziehungen mit Russland und führt den humanitären Dialog.

Moldau wurde durch einen 1 Milliarde Euro schweren Bankenskandal 2014 erheblich erschüttert. Hinzu kommt eine politische Elite, die sich zum europäischen Reformkurs bekennt, es jedoch an konkreter Umsetzung mangeln lässt und eher Einzelinteressen bedient. Dann ist das Land von einem proeuropäischen Kurs der Regierung gekennzeichnet und einem Kurs des mit knapper Mehrheit gewählten Staatspräsidenten, der eher die Kooperation mit Russland sucht und Moldau zu einem unabhängigen, neutralen Land mit guten Beziehungen zu Ost und West machen will.

In der Ukraine hat die Revolution der Würde vom Frühjahr 2014 zu einer politischen und gesellschaftlichen Neuorientierung geführt. Die völkerrechtswidrige Krim-Annexion und die russische Unterstützung der Separatisten im Donbass verschlechtern aber die Bedingungen für die Reformarbeit erheblich. Die politischen Kräfte sind gezwungen, viele Prozesse gleichzeitig zu bewältigen. Dazu gehören die Reformschritte im Banken- und Energiesektor, im Justizwesen, beim Abbau der Schattenwirtschaft, bei Renten und Steuern sowie bei der Intensivierung der Bekämpfung der Korruption. Sie müssen konsequent zu Ende gebracht werden und dürfen nicht im Gestrüpp von Oligarcheninteressen und Korruption am Ende stecken bleiben.

Die Visaliberalisierung, die eingeführt wurde, sollte Mut machen, am Reformkurs festzuhalten. Aber ich will angesichts von Überlegungen, die Visapflicht für russische Staatsbürger einzuführen, schon sagen, dass ich das aus Sicherheitsinteressen verstehen kann. Aber, ich glaube, man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob es nicht besser ist, wenn die Menschen die gegenseitigen Realitäten in den Ländern sehen und begreifen können und nicht auf Fake News und Propaganda hereinfallen. Ich glaube auch, dass es gut wäre, wenn keine neuen Mauern, auch keine virtuellen, in Europa aufgebaut würden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Nach der erfolgten stärkeren Öffnung ist es nicht gut, wenn es zu neuer Abschottung kommt. Diese Realitäten bedingen die Umsetzung der Politik der guten Nachbarschaft, der Östlichen Partnerschaft in Europa. Wenn wir heute darüber sprechen, wie Europa weiter stabilisiert werden kann, dann ist es notwendig, dass wir die Brückenfunktionen, die die osteuropäischen Länder einnehmen können, gerade vielleicht auch Armenien und Belarus, für ein stabiles, großes Gemeinwesen nutzen können.

Die Minsker Abkommen haben viele Länder unterzeichnet; insofern kann man von einem gemeinsamen humanitären Raum in Europa auf der Basis der Prinzipien der OSZE sprechen. Dies sollten wir nutzen, um eine Verzahnung mit der „One Belt, One Road“-Strategie von China herbeizuführen; wir sollten nicht neue Spaltungen organisieren. Es darf nicht zu einer Blockbildung zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union kommen, sondern Zusammenarbeit muss eigentlich unser Ziel sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gerade deshalb brauchen wir eine offensive Nutzung aller Möglichkeiten des Dialogs, auch des Dialogs bei der Umsetzung der Minsker Abkommen. Wir müssen verlorengegangenes Vertrauen wieder zurückgewinnen. Meiner Ansicht nach sollten die Zivilgesellschaften hüben wie drüben in diesen Prozess viel stärker einbezogen werden als bisher.

Was wir allerdings als Letztes brauchen, ist ein globaler Rüstungswettlauf. Das Geld, das dafür ausgegeben wird, ist besser in Bildung, Forschung und Friedensarbeit zu investieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Politik der Östlichen Partnerschaft muss immer das Interesse haben, die Ziele von Prosperität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einem geordneten Rahmen von Entspannung und Sicherheit, am besten in einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur, zu gestalten. Auch gilt es, die Sozialpartner über den sozialen Dialog einzubeziehen, wenn es darum geht, die großen Transformationen vorzunehmen; denn der äußere Friede nützt wenig, wenn der innere, der soziale Friede aufgrund der Transformationen aufs Spiel gesetzt wird.

Werte Kolleginnen und Kollegen, mit Marieluise Beck, Karl-Georg Wellmann, Wolfgang Gehrcke, Gernot Erler, mit diesen geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus dem Auswärtigen Ausschuss verlässt jetzt ein Großteil an osteuropäischer Expertise das Parlament. Zu früh sind unsere Kollegen Andreas Schockenhoff und Philipp Mißfelder von uns gegangen. Ich denke gern an die Arbeit mit Philipp Mißfelder und unsere gemeinsamen Versuche, zu einer Visaliberalisierung mit Russland zu kommen, zurück.

(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht weit gekommen!)

Ich bin auch immer noch davon überzeugt: Vielleicht wäre es heute sogar eine gute Idee, diese Arbeit offensiv fortzusetzen, damit die Menschen davor bewahrt werden, auf Fake News, auf Propaganda und neu aufgebaute Feindbilder hereinzufallen, damit sie die Realitäten auf beiden Seiten sehen und erkennen können. Ich glaube, dass das der beste Schutz dagegen ist, dass sich Menschen zunehmend voneinander entfremden und sich damit auch Nationen entfremden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Außenpolitik wird durch die internationale Arbeit des Deutschen Bundestages beeinflusst. Vier Legislaturperioden durfte ich die sehr aktive Parlamentariergruppe des Nordens führen, die Deutsch-Nordische Parlamentariergruppe, aber ebenso auch die Delegationen des Deutschen Bundestages in der Ostseeparlamentarierkonferenz – und das in großartiger gemeinsamer Kollegialität.

In meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag heute denke ich nach 23 Jahren parlamentarischer Arbeit, auch als Parlamentarischer Staatssekretär, zuerst an meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen ich danken will: hier in den Büros in Berlin, aber auch im Wahlkreisbüro, in der Fraktion, in den Ministerien, im Deutschen Bundestag – von Saaldienern und Verwaltung, über den Raum- und Pförtnerservice bis hin zu den Fahrern, die unser Leben stets in guten Händen hatten. Natürlich gebührt ein großer Dank auch meiner Frau für ihre Unterstützung in dieser Zeit.

Danke sage ich allen Kolleginnen und Kollegen im Parlament, in den Ausschüssen für das Diskutieren, Streiten und Ringen um den richtigen Weg – inhaltlich klar, manchmal in Übereinstimmung, manchmal kontrovers, aber immer menschlich und – wie sollte es anders sein im Auswärtigen Ausschuss – friedliche Lösungen suchend.

Das alles macht es immer wieder möglich, dass das kollegiale Du nicht nur auf Mitglieder der eigenen Fraktion beschränkt bleibt. Damit ist klar: Der Umgang im Parlament hängt nicht so sehr von unseren unterschiedlichen Parteimitgliedschaften ab, sondern im Kern eigentlich von unseren Charakteren, mit denen wir hier versammelt sind.

Im Norden sagt man Tschüs, und von Island bis Finnland ruft man sich zu: Bless! Ha det bra! Vi ses! Hej då! Heippa!

Achten Sie auf sich, bleiben Sie gesund!

(Beifall im ganzen Hause)

Achten Sie auf sich. – Das Wort hat Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7124822
Wahlperiode 18
Sitzung 242
Tagesordnungspunkt Östliche Partnerschaft der Europäischen Union
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta