15.03.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 20 / Zusatzpunkt 3

Nils SchmidSPD - Vorgehen der Türkei in Syrien

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einmarsch bzw. die Militäroperation der Türkei im Norden Syriens rund um Afrin ist völkerrechtswidrig.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD und der LINKEN)

Dies festzustellen, ist keine Neuigkeit. Die Redner der SPD in der Debatte am 1. Februar dieses Jahres haben genau dasselbe gesagt. Inzwischen liegt eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vor, die die Frage der Völkerrechtswidrigkeit beleuchtet. Wir hatten eine Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, wo die Bundesregierung, das Auswärtige Amt, Rede und Antwort gestanden hat. Wie auch immer man das Gutachten und die Aussagen des Auswärtigen Amtes im Ausschuss bewerten mag, zwei Sachen sind völlig klar:

Das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen setzt einen Angriff voraus. Die vorliegenden Informationen lassen daran zweifeln, auch wenn türkische Vertreter darauf hinweisen, dass terroristische Operationen aus dem Norden Syriens unterstützt worden seien. Wir haben von der deutschen Regierung bisher noch keine überzeugenden Darlegungen zu diesem Thema bekommen, die einen Angriff bestätigen. Spätestens bei der Frage der Verhältnismäßigkeit wurde mit der Einkesselung von Afrin eine Schwelle überschritten.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Aber allerspätestens!)

Spätestens damit – ich betone: spätestens – ist die Verhältnismäßigkeit dieser Operation nicht mehr gewahrt. Obwohl sie bei den Vereinten Nationen formell korrekt angemeldet worden ist, halten wir diese Operation für völkerrechtswidrig.

Es ist gut – Kollege Frei hat darauf hingewiesen –, dass die Bundesregierung diese Kritik und diese Vorhaltungen zum Beispiel bei der NATO vorgetragen hat. Ich erwarte, dass die Bundesregierung, wenn die Operation weitergehen sollte, weiterhin klare Worte zu dieser Frage findet.

(Beifall bei der SPD – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Bisher haben wir keine Aussage eines Vertreters der Bundesregierung! – Gegenruf des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Lassen Sie ihn doch mal reden!)

– Ich bin nicht die Regierung; das wissen Sie.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Das weiß ich!)

Die Haltung der SPD-Fraktion ist völlig klar.

(Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Die passt ihm nicht!)

Genauso klar ist allerdings auch, dass der politische Konflikt, die Frage, welche Rolle die Kurden, die kurdisch besiedelten Gebiete in Zukunft spielen werden, nur gelöst werden kann, wenn ein politischer Prozess eine Pluralität, eine Beteiligung der kurdischen Bevölkerungsanteile in der Türkei, in Syrien, im Irak an dem gesamtstaatlichen politischen Prozess, ermöglicht. Das ist das Entscheidende. Wir werden – auch das war immer klare Haltung Deutschlands und der Bundesregierung – nicht akzeptieren, dass bestehende Staaten mit kurdischen Bevölkerungsanteilen auseinanderfallen, sondern wir erwarten, dass der Irak, Syrien, die Türkei alle Bevölkerungsteile politisch integrieren. Deshalb unterstützen wir mit der heute Vormittag diskutierten Mission im Irak gerade auch die gesamtstaatlichen Institutionen und Sicherheitsbehörden des Irak. Deshalb drängen wir darauf, dass in der Türkei der politische Prozess wieder aufgenommen wird, der den Rechten der Kurden, überhaupt allen demokratischen Rechten voll zum Durchbruch verhilft. Es ist fatal, dass dieser Prozess abgebrochen worden ist.

Ich sage auch ganz deutlich: Solange Parlamentarier, ins türkische Parlament gewählte Abgeordnete der HDP, aber auch anderer Parteien, daran gehindert werden, ihr Mandat wahrzunehmen, und mit politisch motivierten Prozessen überzogen werden, ist ein politischer Prozess in der Türkei schwierig. Deshalb ist es sehr gut, dass zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter dieses Hauses Patenschaften für inhaftierte Abgeordnete in der Türkei übernommen haben. Wir fordern die Türkei auf, diesen politischen Prozess wieder in Gang zu setzen.

(Beifall bei der SPD – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Freilassung!)

Wir verschließen die Augen aber auch nicht vor der insgesamt dramatischen Lage in Syrien; denn neben den Operationen und den schweren Verlusten unter der Zivilbevölkerung im Zuge der Operation der Türkei im Norden Syriens haben wir eine Katastrophe vor den Toren von Damaskus. Bundesaußenminister Maas hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lage in Ost-Ghuta von unglaublicher Brutalität gekennzeichnet ist. Wenn wir über die Lage in Syrien, über Menschenrechtsverletzungen, über den Schutz der Zivilbevölkerung in Syrien reden, dann müssen wir auch dieses ansprechen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es reicht nicht aus, nach Nordsyrien zu schauen. Auch dort ist die internationale Gemeinschaft gefordert. Ich sage Ihnen mal eines: Die abstoßenden Bilder, die von AfD-Abgeordneten auf Touri-Trips durch einen Souk von Damaskus und mit Blick auf die Hotels gepostet worden sind,

(Widerspruch bei der AfD – Zuruf von der AfD: Welche abstoßenden Bilder?)

sind das Letzte, was zu einer friedlichen Lösung in Syrien beiträgt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der ­LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kollege Dr. Schmid, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Linksfraktion?

Von?

Von Herrn Neu aus der Linksfraktion.

Ach so, von links. Okay. Bitte.

Herr Kollege Schmid, wir nehmen mit großer Zufriedenheit zur Kenntnis, dass offensichtlich die SPD-Fraktion und auch die CDU/CSU-Fraktion – neben den anderen Fraktionen in diesem Hause – die Attacke auf Afrin durch die türkischen Streitkräfte als einen Völkerrechtsbruch definieren. Nun sind Sie, die SPD und die CDU/CSU, die die Regierung tragenden Fraktionen. Wie kommt es, dass Sie zu diesem Ergebnis kommen, während Ihre Regierung seit Wochen nicht in der Lage ist, ein solches Ergebnis zu erzeugen?

(Zuruf des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])

Gibt es da Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Fraktionen und der Regierung, oder ist die Regierung personell noch nicht so ausgestattet, dass sie solche Analysen erarbeiten könnte? Vielleicht können Sie mir da weiterhelfen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der AfD)

Erst einmal bin ich froh, dass die Regierung einen eigenen Kopf hat. Deshalb müssen Sie die Regierung fragen, wie sie das einschätzt.

(Zurufe von der AfD und der LINKEN: Oh! – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Das ist aber jetzt als Regierungsfraktion schon peinlich!)

– Ich bin nicht die Regierung, sondern die Regierungsfraktion. Die Haltung der SPD ist glasklar, und sie wurde schon vor Wochen, am 1. Februar, genau so formuliert, wie ich es wiederholt habe.

Aber ich will noch auf eines hinweisen – das ist nämlich der blinde Fleck von Ihnen auf der linken und von Ihnen auf der rechten Seite des Hauses –, und das ist Russlands Verantwortung für die humanitäre Katastrophe in Syrien.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was in Ost-Ghuta geschieht, ist der Bruch humanitären Völkerrechts. Es ist der Bruch von Kriegsvölkerrecht. Es ist eine massive Verletzung des humanitären Völkerrechts. Wer hat die Verantwortung dafür?

(Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Sagen Sie das dem Botschafter! Er sitzt hier!)

Es ist Russland. Russland hat die Lufthoheit über diesem Gebiet. Deshalb ist schon die Frage, was Russland zu tun gedenkt, um diesem Bruch des Völkerrechts abzuhelfen.

Welche Maßnahmen hat Russland ergriffen, um den Schutz der Zivilbevölkerung in diesen Konfliktgebieten, in denen es die Lufthoheit hat und damit die ordnende Militärmacht ist, zu gewährleisten? Auch diese Frage müssen wir diplomatisch und politisch auf allen Kanälen beleuchten; denn wenn es wirklich um die Menschen in Syrien geht, dann geht es um alle, nicht nur um die in Nordsyrien.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Schmid. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Ulrich Lechte für die Freien Demokraten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])

Ich weise darauf hin: Es ist seine erste Parlamentsrede überhaupt.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7210250
Wahlperiode 19
Sitzung 20
Tagesordnungspunkt Vorgehen der Türkei in Syrien
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