27.09.2018 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 52 / Tagesordnungspunkt 27

Nils SchmidSPD - Türkei

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich Ende August in Istanbul war, habe ich die Zeitung „Cumhuriyet“ und Chefredakteur Murat ­Sabuncu besucht. Eine Woche später waren Murat ­Sabuncu und viele andere Redakteure nicht mehr im Amt, nachdem die türkische Justiz die Eigentumsverhältnisse der Stiftung, zu der „Cumhuriyet“ gehört, völlig auf den Kopf gestellt hatte. Das ist nur der letzte Baustein einer Entwicklung von Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei direkt und indirekt durch Gesetzgebung, durch Handeln von Verwaltung und leider auch Versagen der eigentlich unabhängigen Justiz.

Spätestens seit dem Abbruch des Friedensprozesses mit den Kurden im Sommer 2015 und dem Putschversuch 2016 hat sich die Türkei, die türkische Regierung unter Erdogan immer mehr von den europäischen Werten, von den gemeinsam vereinbarten Zielen des Beitrittsprozesses, nämlich der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, und von den eingegangenen Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention entfernt. Alle Redner haben das festgestellt.

Wir in Deutschland verfolgen das aufgrund unserer engen Beziehungen zur Türkei mit großer Empörung und mit großer Sorge um diejenigen, die in den Gefängnissen ungerechtfertigt, ohne Anklage, ohne Aussicht auf ein faires Verfahren festgehalten werden. Das gilt nicht nur für die westlichen Staatsbürger. Das gilt auch für die Tausenden und Abertausenden von Akademikern, von Journalisten, von Staatsbediensteten und anderen Bürgerinnen und Bürgern der Türkei, die unter dieser autoritären Wende leiden. Deshalb ist klar: Die Einhaltung der Menschenrechte, Fortschritte hin zu mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit stehen bei jedem Gespräch mit der türkischen Regierung ganz oben auf der Tagesordnung.

(Beifall bei der SPD)

Ich will noch zwei besonders besorgniserregende Entwicklungen erwähnen, die hier bislang nicht diskutiert worden sind: Wir haben eine Rückkehr der Folter in der Türkei.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Ja!)

Und: Es verschwinden wieder spurlos Menschen in der Türkei, vor allem im Südosten. All das, von dem wir hofften, dass es hinter uns, hinter der Türkei liegt, kommt wieder. Das eigentlich Beunruhigende ist, dass in der Breite der Gesellschaft, in der Breite der demokratischen Entwicklung, in der Breite der Verfassungswirklichkeit der Türkei Menschenrechte unter Druck geraten sind und nicht mehr geachtet werden. Deshalb gibt es mit der türkischen Regierung, mit türkischen Parlamentariern und natürlich auch mit Staatspräsident Erdogan sehr viel zu bereden.

Ich muss schon sagen: Die Debatte über das Format des Besuchs von Herrn Erdogan, über das Staatsbankett und den roten Teppich, wird dem, was wir mit der Türkei zu besprechen haben, und der strategischen Bedeutung unserer Beziehung zur Türkei nicht gerecht. Sie scheint mir manchmal geradezu billig und lächerlich zu sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es geht darum, dass wir mit der Türkei und mit Herrn Erdogan über all die Dinge im Dialog sind, die zwischen uns und die Türkei geraten sind. Eine Annäherung zwischen beiden Ländern kann nur geschehen, wenn bei den uns berührenden Themen substanzielle Fortschritte erreicht werden. Für Gespräche kann es nie zu spät sein.

Natürlich sind wir bereit, der Türkei einen Weg zu zeigen, der ihr die Chance für eine europäische Perspektive lässt. Dazu reicht es aber nicht, die interministerielle Arbeitsgruppe der türkischen Regierung zum EU-Beitritt einfach einzuberufen. Wir messen die türkische Regierung nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten. Das bedeutet: Freilassung von kritischen Journalisten, Freilassung der westlichen Staatsbürger, Fortschritte bei der Medienfreiheit, unabhängige Justiz. Das bedeutet auch, dass wir die Gespräche nicht nur mit der regierungsoffiziellen Seite führen. Selbstverständlich hat gerade auch Bundesminister Maas Gespräche mit der Zivilgesellschaft geführt. Wenn Vertreter der HDP, einer wichtigen Oppositionspartei, nach Berlin kommen, werden sie selbstverständlich von der deutschen Regierung empfangen. So funktioniert Dialog mit schwierigen Partnern: indem wir die ganze Breite der Partnerschaft pflegen.

Ich will eines sagen, gerade auch aus den Gesprächen mit der Zivilgesellschaft in der Türkei, mit denjenigen, die nicht auf der Seite von Präsident Erdogan stehen – das sind bei den Wahlen durchgängig etwa 50 Prozent gewesen –: Diese Leute setzen auf uns. Sie wollen den Austausch in Kultur, in Wissenschaft, den Studierendenaustausch. Sie suchen ganz verzweifelt das Gespräch mit uns. Deshalb ist es so dramatisch, dass die Zahl der deutschen Erasmus-Studierenden in der Türkei rückläufig ist, dass Hochschulen den Austausch mit der Türkei eingestellt haben.

Ich war in der Kulturakademie Tarabya – Michelle Müntefering ist da –: eine tolle Einrichtung. Die deutschen Kulturschaffenden mussten sich in Deutschland anhören: Warum geht ihr in die Türkei? – Ich sage: Es ist richtig, dass deutsche Kulturschaffende in die Türkei gehen, dort den Kulturaustausch pflegen

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und ihre Counterparts in der Kultur ermuntern, diesen Austausch zu pflegen.

Ich will noch eines sagen: Wir sollten die Verflechtung der Türkei mit europäischen Institutionen, Europarat, Venedig-Kommission, Beitrittsgespräche, Zollunion, als Instrument sehen, um europäische Werte und europäische Standards in der Türkei durchzusetzen. Deshalb ist es falsch, die Türkei aus diesen Formaten rauszudrängen. Wir brauchen weiterhin die kritischen Fortschrittsberichte der EU-Kommission zur Lage der Türkei.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Das sind inzwischen Rückschrittsberichte!)

Das alles würden Sie abschneiden, Graf Lambsdorff, wenn Sie die Beitrittsgespräche abbrechen würden.

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Nein!)

Deshalb ist es der völlig falsche Weg, die Türkei aus solchen Formaten rauszudrängen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Seit fünf Jahren wird es nicht besser, nur noch schlechter!)

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Graf Lambsdorff.

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7276110
Wahlperiode 19
Sitzung 52
Tagesordnungspunkt Türkei
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