21.02.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 83 / Tagesordnungspunkt 7

Kerstin Griese - Alterssicherung jüdischer Kontingentflüchtlinge

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sprechen hier über ein Thema, das auch mir sehr am Herzen liegt: die Alterssicherung der Menschen, die als jüdische Bürgerinnen und Bürger aus der Sowjetunion zugewandert sind. Ich erinnere mich gut: Als ich damals in Düsseldorf als Historikerin in der Mahn- und Gedenkstätte tätig und eng mit der jüdischen Gemeinde dort verbunden war – ich bin es heute noch –, kamen ganz neue Herausforderungen auf diese Gemeinde zu, als so viele russische Zuwanderer kamen. Die Gemeinde hat sich rasant vergrößert. Ein Blick in die Geschichte zeigt die Dimension: Die jüdische Gemeinde in Düsseldorf hatte vor 1933 etwa 5 500 Mitglieder. Die eine Hälfte konnte vor den Nationalsozialisten fliehen; fast die gesamte andere Hälfte wurde ermordet. Es waren später nur noch 57 jüdische Bürger, die nach 1945 eine neue Gemeinde gründeten.

Wir alle wissen, dass die Zuwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ab Beginn der 1990er-Jahre die jüdischen Gemeinden in Deutschland hat wieder aufblühen lassen. Alleine in Düsseldorf hat sich 1991 die Zahl der Mitglieder verfünffacht. Heute ist sie mit 7 500 Mitgliedern die drittgrößte Gemeinde in Deutschland. In meiner Heimatstadt Ratingen gibt es heute den Jüdischen Kulturverein „Schalom“, der fast ausschließlich russischstämmige Mitglieder hat. Übrigens hat mich bisher niemand von ihnen auf das Problem Alterssicherung angesprochen.

Fakt ist: Die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Deutschland mit ihrer Zuwanderungsentscheidung wieder eine Chance auf ein reiches religiöses und kulturelles jüdisches Leben gegeben, und dafür sind wir dankbar.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind nach Deutschland gekommen in einer Situation verstärkter antijüdischer Angriffe in der sich auflösenden Sowjetunion. Einige Dissidenten waren jüdische Intellektuelle. Viele Juden hatten im Pass als Nationalität den Eintrag „Hebräer“. Die weitaus meisten haben die Sow­jetunion in Richtung Israel oder USA verlassen. Etwa 220 000 kamen ab 1990 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Etwa 85 000 von ihnen wurden Mitglieder der jüdischen Gemeinden.

Die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben eine hervorragende Integrationsarbeit geleistet. Sie haben ihnen bei der Suche nach Wohnungen, nach Jobs und nach Ausbildung geholfen; sie haben Sprach- und Religionskurse angeboten. Gerade die Kinder der Zugewanderten haben heute beruflich sehr gut Fuß gefasst. Bei dieser Integrationsleistung hat der deutsche Staat diese Gemeinden finanziell unterstützt. Das ist richtig und gut so. Auch das soll gesagt werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Älteren, die nach Deutschland gekommen sind, haben aber keine Rentenzeiten hier zurücklegen können. Sie waren deshalb im Alter auf die Grundsicherung angewiesen und sind es auch noch heute. Ich will das ausdrücklich nicht schlechtreden; denn es ist eine gute und richtige Seite unseres Sozialstaates, dass jemand im Alter Grundsicherung bekommt, auch wenn er keine Rentenansprüche erwerben konnte.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Eine auskömmliche Alterssicherung aufzubauen, ist für alle Menschen, schwierig, wenn sie erst später im Leben nach Deutschland gekommen sind.

Wir müssen bei dieser Debatte auch im Blick behalten, dass als Kontingentflüchtlinge auch die vietnamesischen Boatpeople 1985, die albanischen Botschaftsflüchtlinge 1990 und zuletzt die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge gekommen sind. Ich sage in aller Ernsthaftigkeit: Eine Gruppe besserzustellen – das auch noch mit dem meines Erachtens historisch nicht nachvollziehbaren Argument, sie seien alle deutschstämmig –, kann neue Ungerechtigkeiten schaffen. Das ist das Gefährliche an dieser Debatte. Wir dürfen und wollen es nicht zulassen, dass Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber es ist doch genau umgekehrt!)

Ich kann nachvollziehen, dass Verbesserungen für jüdische Zugewanderte für notwendig gehalten werden. Wir haben schon in der letzten Wahlperiode ausführlich darüber diskutiert. Die zuständigen Berichterstatter haben sich mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland getroffen. Wir haben den Vorschlag, auf jüdische Kontingentflüchtlinge das Fremdrentengesetz anzuwenden, diskutiert und darüber, diese Gruppe den Spätaussiedlern gleichzustellen. Es ist immer wieder klar geworden, dass eine rentenrechtliche Lösung nicht der richtige Weg ist.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es mit einer Härtefallregelung! Aber irgendwas!)

Das Fremdrentengesetz ist eine absolute Ausnahme und sollte nicht verlängert oder erweitert werden. Deshalb bin ich irritiert, dass die Linkspartei, die dieses Gesetz sonst kritisiert, den vorgelegten Ansatz gut findet. Ich bin auch skeptisch, ob es gut ist, diese Forderung weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen und damit immer wieder Erwartungen zu wecken, die man meines Erachtens nicht verantworten kann.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ihr müsst was machen!)

In Ihrem vorliegenden Antrag werden verschiedene Ansätze genannt. Sie haben sich noch auf keinen geeinigt, der in Betracht gezogen werden soll. Das zeigt mir, dass auch Sie wissen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Der Abschluss eines Sozialversicherungsabkommens wäre sicherlich die beste Lösung für die Probleme mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion; denn dann würden Rentenansprüche aus dem Ausland hierher übertragen. Innerhalb der Europäischen Union ist das ja so, sodass der Rentenexport, wie es heißt, mit Estland, Lettland und Litauen problemlos klappt.

Wir haben zum Beispiel bei den Nicht-EU-Staaten ein Sozialversicherungsabkommen mit Moldau. Wir haben auch mit der Ukraine schon ein Abkommen unterzeichnet. Mit Russland konnte trotz mehrerer Verhandlungsrunden – vieler Verhandlungsrunden in den letzten Jahren – kein Sozialversicherungsabkommen geschlossen werden. Allerdings erlaubt auch das russische Recht unter bestimmten Voraussetzungen eine Rentenzahlung an Personen im Ausland. Nach Erkenntnissen des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages werden 97 000 russische Renten nach Deutschland gezahlt.

Wie Sie sehen, ist die Bundesregierung sehr aktiv und bestrebt, Sozialversicherungsabkommen zu schließen. Dazu gehören natürlich immer zwei Seiten, und mit Russland ist das leider noch nicht gelungen, was auch an der schwierigen außenpolitischen Lage liegt.

Die dritte Möglichkeit, die Sie in Ihrem Antrag auch nennen, ist ein Härtefallfonds, den wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Wir arbeiten daran. Wir haben eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe errichtet, die sich mit der Umsetzung einer Fondslösung für Härtefälle zunächst in der Rentenüberleitung Ost/West beschäftigt. Dazu werden Gespräche zwischen dem Bund und den Ländern geführt. Der Abschluss wird zum Ende dieses Jahres angestrebt, und die Erkenntnisse werden auch in eine Lösung für die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge einfließen.

Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Selbstverständlich erhalten auch die jüdischen Kontingentflüchtlinge, wenn sie Holocaustüberlebende sind, Entschädigungszahlungen; auch das sollte nicht vergessen werden. Diese Leistungen werden nicht auf die Grundsicherung angerechnet und gelten für alle, die Überlebende des Holocaust sind.

Sie sehen: Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortung gerade bei einem so wichtigen Thema nach.

Ich kann die Antragsteller nur aufrufen, die Komplexität des Themas zu sehen und gemeinsam an einer guten Regelung zu arbeiten, aber nicht Gruppen gegeneinander auszuspielen, auch nicht Versprechen zu machen, die nicht erfüllbar sind und neue Ungerechtigkeiten hervorrufen würden. Denn auch die Folgen muss man bedenken: Wenn man das Fremdrentengesetz hier ausweiten würde, würde man neue Ungerechtigkeiten schaffen.

Uns liegt daran, dass alle Menschen im Alter sozial gut abgesichert sind. Uns liegt daran, dass Integration gelingt. Daran müssen und werden wir alle gemeinsam arbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Redner ist der Kollege Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7328841
Wahlperiode 19
Sitzung 83
Tagesordnungspunkt Alterssicherung jüdischer Kontingentflüchtlinge
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