08.11.2019 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 125 / Tagesordnungspunkt 26

Katrin BuddeSPD - Vereinbarte Debatte - 30 Jahre Mauerfall

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Wer heute Morgen MOMA geschaut hat, der hat die Rufe gehört: Tor auf! Tor auf! Wir kommen wieder, wir müssen ja morgen zur Arbeit! Wir haben alle unsere Ausweise mit! Lasst uns doch einfach durchs Tor gehen! – Das war die Stimmung am 9. November abends. Wer sie noch einmal fühlen will, sollte sich in der Mediathek den MOMA-Beitrag von heute Morgen anhören.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt ganz viele Erinnerungsgeschichten, die in diesen Tagen auf Veranstaltungen und untereinander erzählt werden, weil wir uns erinnern. Diese Erinnerungsgeschichten, die ich immer wieder höre, unterscheiden sich sehr von meiner eigenen persönlichen Wahrnehmung. Natürlich hat jeder seine eigene persönliche Wahrnehmung vom Herbst 1989 und auch vom 9. November. Aber eines gleicht sich: Die meisten von uns waren staunend, sie waren ungläubig. Sie fragten sich auch wie Dietmar Woidke mit ein wenig Angst: Komme ich wieder zurück, wenn ich in meinem Ausweis den Stempel „Ausreise aus der DDR“ stehen habe? Wir waren überwältigt, und alles war ein wenig irreal.

Aber so klar, wie die Geschichte heute in der Rückschau erzählt wird, war das alles damals nicht. Noch am 7. Oktober, also nicht lange davor, waren überall in der DDR ganz viele Menschen – einfache Passanten, aber auch Demonstrantinnen und Demonstranten, die gegen den Staat auf die Straße gegangen waren – festgenommen worden, inhaftiert worden. Wer die Gedächtnisprotokolle über Prügel, Schikane, über Verhöre und Inhaftierungen liest, der muss daran denken: Auch das war die DDR. Das MfS hatte die Tatze auf alle Teile der Volkspolizei gelegt, auch auf die, die normalerweise nichts mit dem MfS zu tun hatten.

Am 6. November wurde die Aktenvernichtung angeordnet. Am 4. und 5. November, kurz vor dem 9. November, reisten 10 000 Bürgerinnen und Bürger ohne Visa über die CSSR nach Bayern aus. In dieser Zeit, meine Damen und Herren, wurde auch das Wort „Wende“ geboren. Das ist etwas, was es nie gegeben hat. Es hat keine Wende gegeben. Ich bin immer wieder erstaunt und überrascht, dass diese Bezeichnung die Bezeichnung „Friedliche Revolution“ abgelöst hat. Das macht mich wütend, und das macht mich auch traurig.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Wende war etwas, was Egon Krenz wollte. Wer eine Bestätigung dafür braucht, muss sich die Sendungen der „Aktuellen Kamera“ dieser Zeit ansehen. Egon Krenz hat gesagt, man wolle jetzt die Wende in der DDR schaffen. Diese Wende hat es, wie gesagt, Gott sei Dank nie gegeben. Deshalb kann sie auch heute nicht vollendet werden. Wenn man sich dies einmal klargemacht hat, meine Damen und Herren, dann weiß man, wie dumm, wie skurril, wie irreführend einige der Parolen von heute sind. Und wer diese Parolen ausgibt, der steht nicht in der Tradition der Friedlichen Revolution, der steht in der Tradition von Egon Krenz.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mehr ist zu Ihrer Rede heute auch nicht zu sagen.

Wir wollten eine Demokratisierung ohne SED, ohne Egon Krenz, ohne MfS. Wir wollten Presse-, Meinungs- und Reisefreiheit, eine saubere Umwelt. Wir wollten nicht nur die Brosamen, die uns die SED geben wollte. Wir wollten Veränderungen in unserem Zuhause; das haben die Menschen am 9. November zum Beispiel an der Bornholmer Straße auch gesagt. Und ja, wir wollten auch Wohlstand – selbstverständlich. Die DDR war eine Mangelwirtschaft. Das zeigte sich nicht nur, wenn es um Bananen, Farbfernseher und Trabis ging, sondern zum Beispiel auch, wenn man einen CT-Termin brauchte und kein Westgeld hatte.

Verwechseln wir heute auch nicht gute strukturelle Dinge wie den SV-Ausweis oder den Impfstatus mit der DDR. Und verwechseln wir nicht das, wie ich finde, strukturell vernünftige Bildungssystem der DDR mit dem, wozu es benutzt wurde, nämlich zur Kontrolle und ideologischen Indoktrination von Geburt an. Und nein, ich konnte nicht einfach sagen: Ich will Abitur machen. – Und nein, ich konnte meinen Studienplatz nicht frei wählen. Und ja, ich musste unterschreiben, dass ich am Ende des Studiums für drei Jahre dahin gehe, wo der Staat mich braucht. Das musste man damals, es sei denn, man hatte wie ich eine Wohnung; denn Wohnungen waren noch knapper.

Meine Damen und Herren, die Mauer ist nicht gefallen. Sie wurde von innen eingedrückt. Sie wurde gestürzt. Sie wurde überwunden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie bekam Löcher. Sie bekam Löcher an den Stellen, wo die Brüdervölker nicht mehr gewillt waren, die Handlanger der Sowjetunion zu sein.

Holen wir uns ein Stück dieses Glücksgefühls zurück, das wir im Herbst 1989 empfunden haben, und gestatten wir uns auch, zuzugeben, dass es eben nicht die Sicht auf den Herbst 1989, auf die Ereignisse und Ergebnisse dieser Zeit gibt. Die Empfindungen, die die Menschen mit dem Herbst 1989 verbinden, sind ganz unterschiedlich: ob sie ängstlich oder mutig waren, ob sie aktiv dabei waren oder staunend zugesehen haben und an der Seite standen, ob sie die DDR als ihren Staat gesehen haben oder eben – wie ich – nicht als ihren Staat gesehen haben. Das ist sehr, sehr individuell und sehr, sehr unterschiedlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen wir nicht zu, dass 1989 ein Mythos wird. Denn ein Mythos erinnert nicht nur, sondern er vergisst, und er begradigt. Joachim Gauck hat in einem Interview die Zeit damals mit einem jugendlichen Liebespaar verglichen, das seine Liebessehnsucht stillen will, gar nicht voneinander lassen kann und unbedingt vereinigt werden will, später dann aber einen merkwürdigen Wandel von absoluter Verehrung und Hingabe erlebt hin zu einem Leben miteinander, in dem es plötzlich an der Beziehung arbeiten muss.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde, das ist ein gutes Gleichnis; denn so geht es auch uns emotional manchmal – in Ost und in West.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ja, ich konnte mir 1989 nicht vorstellen, wie ein wiedervereintes Deutschland in den 90er-Jahren aussehen würde, wie es in 2015 oder 2019 aussehen würde. Denn ich wusste: Wenn der Kalte Krieg zu Ende geht, dann verändert sich etwas, überall auf der Welt. Die Systeme brechen auseinander; das sind große Bewegungen. Aber wer heute behauptet, er hätte gewusst, wie das aussehen würde, der schwindelt – zumindest ein bisschen oder ganz viel.

Ja, es ist für uns Ostdeutsche – vielleicht – schwieriger, mit dieser offenen, freien, hoch komplizierten Welt heute umzugehen, mit dieser anstrengenden Moderne, mit dem Leben in einer freiheitlichen Moderne. Deshalb haben oder hatten wir keinen schlechteren Charakter. Aber auf dem Gebiet der DDR gab es im Grunde von 1945 bis 1989, 44 Jahre lang, eine Diktatur. Selbstverständlich gewöhnen sich Menschen an Anpassungsleistungen, die sie erbringen müssen, um ihre persönliche Freiheit zu sichern; auch das gehört zur Wahrheit. Immerhin gibt es aber inzwischen nach drei Jahrzehnten viele Generationen überall in der Bundesrepublik, die dies nicht mehr mussten. Deshalb finde ich es gut, dass über 70 Prozent den Einigungsprozess heute positiv sehen und dass sie den Glücksfall der Wiedervereinigung und des Einstürzens der Mauer auch alle gemeinsam positiv sehen.

(Beifall des Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU])

Ich freue mich auf das 40. Jubiläum in zehn Jahren. Denn da werde ich hingehen, anders als damals, als ich als junge Frau mit einem Diplom in der Hand zwangsverpflichtet werden sollte, am 7. Oktober 1989 zur Feierstunde zu gehen, und gesagt habe: Nein, das mache ich nicht. – Denn diesmal verteidige ich diesen Staat. Diesmal ist es meiner, und es ist meine Demokratie.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wunderbar!)

Auch ein bisschen Diktatur und ein bisschen solcher Regelungen, wie Sie sie wollen, zerstören diese Freiheit und diese Demokratie. Deshalb werden wir es nicht zulassen, dass wieder Mauern aufgebaut werden.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Was ist denn das für ein Blödsinn?)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7400308
Wahlperiode 19
Sitzung 125
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte - 30 Jahre Mauerfall
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