23.04.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 156 / Tagesordnungspunkt 7

Christian LindnerFDP - Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Covid-19-Pandemie war, die Covid-19-Pandemie ist eine unbekannte Herausforderung, die unser Land nahezu unvorbereitet getroffen hat. Deshalb haben wir hier in diesem Parlament in großer Einmütigkeit einschneidende Maßnahmen gemeinsam beschlossen. Wir haben unser Land heruntergefahren. Wir haben Grundrechte, Grundfreiheiten eingeschränkt wie zu keinem Zeitpunkt zuvor in der Geschichte unseres Landes. Das haben wir Freie Demokraten mitgetragen. Ja, teilweise haben wir sogar dazu ermuntert, kontrolliert das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben herunterzufahren.

Nun sind einige Wochen ins Land gegangen. Nun wissen wir mehr. Nun ist das Land weiter. Der Gesundheitsschutz ist unzweifelhaft eine Aufgabe für die staatliche Verantwortungsgemeinschaft. Es gibt eben Dinge, die gehen über die Möglichkeit der individuellen Verantwortungsübernahme hinaus, Herr Gauland.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Zustandes insgesamt und die Zweifel an der Geeignetheit einzelner Maßnahmen sind ebenfalls gewachsen. Und weil die Zweifel gewachsen sind, Frau Bundeskanzlerin, endet heute auch die große Einmütigkeit in der Frage des Krisenmanagements.

(Beifall bei der FDP)

Sie haben vielfach, Frau Merkel, von Vorsicht gesprochen und auch heute hier den Eindruck erweckt, wer Ihren Gedanken von Vorsicht nicht teilt, müsse sich Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit vorwerfen lassen. So auch am Montag in Ihrer öffentlichen Stellungnahme. Das sind aber nur scheinbar Alternativen: Vorsicht und Leichtsinn. Freiheit und Gesundheit dürfen wir nicht und müssen wir auch nicht gegeneinander ausspielen. Das Land ist weiter.

Hier ist von allen Rednern heute – und nicht nur heute – unterstrichen worden, wie verantwortungsbewusst und solidarisch die Menschen sind – Gott sei Dank. Versorgungsengpässe werden bekämpft. Die öffentlichen Gesundheitsämter und auch das Gesundheitswesen insgesamt haben ihre Kapazitäten erhöht. Also: Das Land ist weiter, und deshalb, Frau Bundeskanzlerin, muss jetzt darüber gesprochen werden, wie wir Gesundheit und Freiheit besser vereinbaren als in den vergangenen Wochen. Es ist jetzt möglich.

(Beifall bei der FDP – Ulli Nissen [SPD]: Da bin ich gespannt!)

– Ich komme dazu.

Die wissenschaftlichen Grundlagen für die Regierungspolitik haben sich ja regelmäßig verändert. Erst ging es um die Verdopplungszahlen, dann um die Reproduktionsquote. Erst sollten 60 bis 70 Prozent kontrolliert infiziert und dann immun werden, heute geht es um die absolute Eindämmung.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Zurufe von der SPD)

Masken waren erst unnötig, dann – –

(Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD])

– Ich rede nur über die Politik der Regierung, nicht über meine Haltung. Ich bin noch dabei, zu referieren, Kolleginnen und Kollegen.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Masken waren erst unnötig, dann waren sie Virenschleudern, dann waren sie eine Höflichkeitsgeste, dann waren sie ein dringendes Gebot, und heute gibt es eine Maskenplicht. Ich werfe das niemandem vor, verehrte Anwesende.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

– Lachen Sie nur! Anhören müssen Sie es sich trotzdem.

(Beifall bei der FDP – Ulli Nissen [SPD]: Aber das fällt schwer!)

Ich werfe das niemandem vor. Aber eins ist doch ersichtlich: Viele Entscheidungen sind nicht gesicherte Erkenntnis, sind nicht zur Wahrheit geronnene Forschung,

(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: NRW-Landesregierung!)

sondern sind politische Entscheidung, und als solche können und müssen sie hier diskutiert werden.

(Beifall bei der FDP)

Ich bedaure in diesem Zusammenhang das Wort „Diskussionsorgien“.

(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Nordrhein-Westfalen gibt es noch weniger!)

Dahinter steht ein anderes Bild von den Menschen, als wir es haben. Die Menschen werden durch politische Debatten nicht verunsichert, sondern eher bestärkt, dass mit ihren Interessen und Einschätzungen sorgfältig umgegangen, dass sorgfältig abgewogen wird. Der Staat ist immer begründungspflichtig, wenn er Grundfreiheiten einschränkt. Deshalb muss darüber diskutiert werden.

(Beifall bei der FDP)

Tatsächlich beklagen Beobachter wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel – zufällige Namensähnlichkeit – oder der Philosoph Julian Nida-Rümelin, dass wer in unserem Land über Öffnung diskutieren will, mindestens unter einen moralischen Rechtfertigungsdruck gerät. Gott sei Dank haben wir eine unabhängige Justiz. Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass in der Covid-19-Pandemie das Versammlungsrecht nicht einfach pauschal eingeschränkt werden kann, und das Landgericht Hamburg hat die unsinnige 800-Quadratmeter-Regel verworfen. Das zeigt: Die unabhängige Justiz lässt sich durch Regieanweisungen der Politik nicht einschüchtern. Ein gutes Zeichen!

(Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Um Gottes willen! Das ist jetzt aber unter Ihrem Niveau! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie eigentlich, was in der Landesverordnung Nordrhein-Westfalen von Schwarz-Gelb steht?)

Und tatsächlich: Die 800-Quadratmeter-Regel oder auch die Diskriminierung der gesamten Gastronomie hält auch virologischen Ansprüchen nicht stand. Da sind wir bei den Alternativen.

Zum Ersten. Professor Gérard Krause vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung, also Infektiologie, in Braunschweig, ein früherer Regierungsberater in Zeiten der Ehec-Krise, hat zu Ihren Beschlüssen vom vorvergangenen Donnerstag gesagt, die seien in der Sache nicht nötig, die Orientierung an einzelnen Sparten und Quadratmeterzahlen sei unsinnig, man könne sogar die Gastronomie wieder öffnen, entscheidend sei nur der Abstand zwischen den Tischen. Oder genauer gesagt: Entscheidend ist nicht, was geöffnet und was geschlossen ist, sondern entscheidend ist, ob überall die Hygieneregeln eingehalten werden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)

Zum Zweiten: die Orientierung an der Reproduktionsquote. Professor Alexander Kekulé sagte dazu gestern im ZDF, das sei inzwischen das goldene Kalb des Krisenmanagements. Warum? Weil die Reproduktionsquote deutschlandweit auch insgesamt steigt, wenn es ein dramatisches Infektionsgeschehen an nur einem einzigen Hotspot gibt. Der R-Faktor für das ganze Land sagt gar nichts über die reale Situation aus, und deshalb ergibt es keinen Sinn, für Deutschland insgesamt einen Shutdown zu verhängen, sondern wir müssen viel stärker regional gegen Infektionsketten vorgehen. Denn dann haben wir eine Chance, Freiheit und Gesundheit wirksam zu vereinbaren – wirksamer als jetzt.

(Beifall bei der FDP)

Zum Dritten. Auch nach Wochen wird diese Pandemie unverändert mit Instrumenten bekämpft, die im Grunde seit dem Mittelalter bekannt sind: Quarantäne, die bekannt ist aus der Zeit, als Schiffe 40 Tage warten mussten, ehe sie anlegen durften, Masken, Isolation. Das sind die Mittel des Mittelalters auch im Jahr 2020, wo uns eigentlich smartere Instrumente durch die Digitalisierung zur Verfügung stehen.

(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rauchzeichen!)

Hier haben wir die dringende Frage an die Regierung: Wo sind die Apps? Wo ist mindestens die Tracing-App, die wir brauchen, um Infektionsketten nachzuverfolgen? Die digitalen Defizite Deutschlands kosten uns Gesundheit, Wohlstand und Freiheit, und das ist nicht länger hinnehmbar.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine alternative Krisenstrategie ist möglich, weil unser Land weiter ist. Eine alternative Krisenstrategie ist auch nötig wegen der gesundheitlichen Folgen, auf die allenthalben hingewiesen wird, heute auch in den Medien. Chefärzte beklagen, dass sich in den Abteilungen, wo es um Herzerkrankungen oder Schlaganfälle geht, niemand mehr meldet, weil die Menschen Angst haben. Das sind gesundheitliche Folgewirkungen. Es sind Faktoren wie soziale Belastungen, wenn Menschen sich nicht mehr austauschen, nicht mehr in der Freiheit bewegen können. Ja, und auch wer Angst um die wirtschaftliche Existenz hat, nimmt Schaden an der Seele.

Sie haben, Herr Kollege Mützenich, durchaus recht: Steuerentlastungen allein helfen da nicht. Sie haben gestern Nacht für die Gastronomie eine Steuerentlastung beschlossen. Ich gebe Ihnen recht: Die hilft nichts. Denn eine reduzierte Mehrwertsteuer hilft, wenn kein Umsatz anfällt, keinem Betrieb beim Überleben.

(Beifall bei der FDP)

Also sollten Sie dafür sorgen, dass es schnell unter verantwortbaren Gesundheitsbedingungen wieder zu einer Öffnung kommt.

Grundsätzlich liegen Sie aber falsch. In einem Land, in dem es vor einer Coronapandemie bereits die höchste Steuerquote in seiner Geschichte gab,

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie hoch war die noch mal genau? Sagen Sie mal die Zahl!)

muss umso mehr danach die Möglichkeit geschaffen werden, dass die Menschen wieder Eigenkapital aufbauen und private Vorsorge stärken können.

(Beifall bei der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ich hätte gern mal eine Zahl! Jetzt mal eine Zahl!)

Ich sage Ihnen eines, Herr Mützenich – das sage ich auch den Kollegen von Grünen und Linkspartei –:

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wie ist die Zahl, Herr Lindner? Wissen Sie die? Nennen Sie mir die Steuerquote hier! – Weiterer Zuruf des Abg. Ulli Nissen [SPD])

Wir diskutieren gerne nach der Krise mit Ihnen wieder über die Vermögensabgabe und die Vermögensteuer. Jetzt müssen wir uns nur darum kümmern,

(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: 23 Prozent ist sie!)

dass es überhaupt noch eine wirtschaftliche Substanz gibt, die Sie danach besteuern wollen.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, wir werden uns intensiv damit auseinandersetzen müssen, ob tatsächlich weitere planwirtschaftliche Eingriffe notwendig sind, wie Sie, Herr Mützenich, es eben im Zusammenhang mit dem Lieferkettengesetz angedeutet haben. Darüber können wir gerne streiten.

(Jan Korte [DIE LINKE]: Der Markt regelt jetzt alles! Das läuft sehr gut!)

Wir glauben, dass es erforderlich ist, die Infektionsketten zu unterbrechen.

(Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD])

Aber irgendwann werden wir auch die Interventionsketten in unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung unterbinden müssen. Denn der Staat ist mit Sicherheit nicht der bessere Unternehmer. An dieser Einsicht hat sich auch nach Corona nichts verändert.

(Beifall bei der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Mehr Markt! Wir brauchen mehr Markt! Das ist eine gute Idee! Total gute Idee! Darauf muss man kommen in diesen Zeiten! Darauf muss man erst mal kommen! So ein Unsinn! – Ulli Nissen [SPD]: Dass da die FDP noch klatscht, versteh ich nicht!)

Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7441882
Wahlperiode 19
Sitzung 156
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
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