02.07.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 170 / Tagesordnungspunkt 9

Johannes SchrapsSPD - Deutsche Ratspräsidentschaft

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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt weiß ich, warum der Kollege Schäfer für uns als Erstes reden wollte. Als ich den vorliegenden Antrag erstmals in der Hand hatte, war ich ehrlicherweise etwas überrascht, dass sich die AfD tatsächlich auf ganzen zehn Seiten mit Europa beschäftigt. Da sind wir ja ganz andere Sachen gewöhnt.

(Beatrix von Storch [AfD]: Das ist doch gut!)

Aber inhaltlich bestätigen diese zehn Seiten leider alle Befürchtungen, die man schon vor dem Lesen haben musste. Wie so viele Vorrednerinnen und Vorredner das gerade schon deutlich gemacht haben, habe auch ich während des Lesens mehrfach die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Und da Sie sich damit wirklich selbst entlarven, will ich nur auf ganz wenige Dinge tatsächlich eingehen.

Wenn Sie in diesem Antrag beispielsweise schreiben, die EU müsse „zu ihren Wurzeln als Wirtschaftsgemeinschaft zurückkehren“ und den freien Handel und die Zollunion stärken,

(Zuruf von der AfD: Genau!)

sich im gleichen Atemzug aber gegen den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft aussprechen, indem Sie einen europäischen Wiederaufbaufonds als Reaktion auf die Coronakrise ablehnen, dann macht das doch nur deutlich, wie Sie sich selbst widersprechen, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der AfD)

– Getroffene Hunde bellen lauter. Man merkt das auf der rechten Seite schon ganz deutlich.

Dann bringen Sie immer wieder das Stichwort „nationale Souveränität“; die Kollegin Brantner hat es gerade vollkommen zu Recht angesprochen. Ich habe irgendwann aufgehört, zu zählen, wie oft das in diesem Antrag steht. Da behaupten Sie, eine größere Souveränität der Mitgliedstaaten bedeute „die Rückkehr zu wirklicher Subsidiarität und ... zu mehr Bürgernähe“.

Ich will Ihnen da mal ein paar Zahlen entgegenhalten.

(Zuruf von der AfD: Ach je!)

Wir haben nämlich laut Daten des 92. Eurobarometers aus dem Herbst vergangenen Jahres die Aussage, dass sich 83 Prozent der Deutschen nicht nur als Deutsche, sondern auch als EU-Bürger fühlen.

(Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Diese 83 Prozent wollen ganz sicher keine nationale Souveränität in Ihrem Duktus, sondern sie wollen eine starke, eine handlungsfähige Europäische Union, weil sie genau wissen, dass ein Land wie Deutschland auch nur im Gefüge der Europäischen Union stark sein kann.

(Beifall bei der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Genau richtig!)

Diese 83 Prozent der Menschen in Deutschland – mindestens; ich würde sagen, es sind noch mehr – denken eben nicht so engstirnig, wie Sie das ganz offensichtlich tun, weil diese Menschen wissen, dass sich Souveränität nicht nur an nationalen Grenzen bemisst. Indem wir Kompetenzen in bestimmten Bereichen auf die Europäische Union übertragen, sind wir in einem internationalen Umfeld, wie wir es heute vorfinden – das hat der Kollege Schäfer deutlich gemacht –, als Europäische Union überhaupt erst gemeinsam handlungsfähig.

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter?

Nein, nein; der hat gerade eben schon genug gesagt. – Durch die Übertragung von nationalstaatlicher Souveränität auf die europäische Ebene gewinnen wir als Mitgliedstaaten im Umkehrschluss überhaupt erst die Souveränität, die wir auf internationaler Ebene alleine überhaupt nie ausüben könnten.

Dazu passt übrigens auch ein Satz, den Martin Schulz im Gespräch mit Bundestagspräsident Schäuble im Europaausschuss noch mal gesagt hat – die Kollegen, die gestern in diesem Ausschuss waren, werden es noch im Ohr haben –: Es gibt in Europa nur zwei Arten von Ländern – jene, die global gesehen klein sind, und jene, die das noch nicht gemerkt haben. – Treffender kann man das aus meiner Sicht überhaupt nicht ausdrücken, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD)

Sie schreiben in Ihrem Antrag außerdem, EU-Gelder sollten nicht an Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden. Auch das sei eine Frage der Souveränität. Dann behaupten Sie gleich noch dazu, die EU würde versuchen, diese Werte durch eine Verknüpfung mit EU-Geldern zu kaufen. Also, kruder geht es aus meiner Sicht wirklich kaum.

Ich weiß nicht, ob Sie den EU-Vertrag überhaupt mal gelesen haben. In Artikel 2 stehen diese Grundwerte nämlich schwarz auf weiß – es sind die Grundwerte, die unsere gemeinsame Europäische Union begründen –:

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Genau!)

Das ist die Achtung der Menschenwürde, das ist Freiheit, das ist Demokratie, das ist Gleichheit, das ist Rechtsstaatlichkeit, und das sind die Menschenrechte einschließlich Minderheitenrechten.

(Beifall bei der SPD)

Schauen Sie da gerne noch mal nach, weil Sie das, glaube ich, sicherlich überlesen oder weil Sie gar nicht reingeschaut haben.

Deswegen heißt es eben nicht, Geld gegen Werte oder irgendwas einzutauschen, wie in Ihrem Antrag formuliert, sondern es heißt, Prinzipien zu erhalten, denen man sich mit dem Beitritt zur Europäischen Union nicht nur verpflichtet hat, sondern denen man sich eigentlich verpflichtet fühlen sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben Rechte und Pflichten in der Europäischen Union, und die sorgen dafür, dass wir gemeinschaftlich stark sind, und sie sorgen nicht dafür, dass wir jeder einzeln nichts zu sagen haben.

Aber gerade weil wir die Haltung, sich diesen Grundwerten der Europäischen Union tatsächlich verpflichtet zu fühlen, nicht überall so ausgeprägt vorfinden – wir merken das hier im Haus; wir merken das auch in der Europäischen Union manchmal –, ist ein Grundwert während dieser Coronakrise ja verstärkt in den Fokus gerückt. Sie ahnen, dass ich von der Rechtsstaatlichkeit spreche. Wir haben in den letzten Wochen alle mitansehen können, dass Regierungen, die den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in der Vergangenheit schon zunehmend weniger Beachtung geschenkt haben, diese Grundwerte vor allem in einer Krisensituation wie jetzt in Coronazeiten noch weiter einschränken können. Da wird nicht davor zurückgeschreckt, so eine Krise auch zu nutzen, um Machtspiele zu spielen, um Machtpositionen zu manifestieren und teilweise unumkehrbar zu machen. Die Tatsache, dass Macht wechseln kann, ist ein Grundprinzip von Demokratie und ein Grundprinzip in unserer Europäischen Union, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD)

Auch deshalb haben wir als Koalitionsfraktionen den gemeinsamen Antrag für den Schutz von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa in dieser Woche hier in den Bundestag eingebracht. Er hat aufgrund der pickepackevollen Tagesordnung, wie wir das aus der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause der vergangenen Jahre kennen, leider nicht mehr in die Tagesordnung gepasst. Ich freue mich aber, dass wir die Thematik dadurch in der ersten Septemberwoche noch mal aufgreifen können. Ich möchte die Gelegenheit an dieser Stelle nutzen, schon einige Worte zu diesem Thema, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu sagen, zumal die weitere Auseinandersetzung mit dem Antragstext für wenig sinnvoll gehalten werden kann. Wir werden ihn jedenfalls mit klarer Haltung ablehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])

Ich freue mich sehr, dass wir bereits vor unserer eigenen EU-Ratspräsidentschaft einiges im Bereich Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene getan haben. Ich meine hier vor allem das sogenannte Periodic Peer Review zur Rechtsstaatlichkeit, das aus meiner Sicht einen guten formellen Rahmen für den Rechtsstaatsdialog zwischen den EU-Mitgliedstaaten bilden wird. Ich glaube, dass wir dem Ziel, ein gemeinsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene herauszuarbeiten, damit deutlich näher kommen.

Außerdem unterstützen wir den Vorschlag, die Mitgliedstaaten in die Vorbereitung des jährlichen Rechtsstaatsberichts einzubinden und daran zu beteiligen. Peer Review, also gegenseitige Überprüfung, bei der alle mitmachen: So bilden wir Vertrauen. Und das ist die wichtigste Grundlage für Zusammenarbeit in der Europäischen Union, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der nächste Schritt sollte sein, auch zu untersuchen, ob wir eventuell zusätzlich noch ein Expertengremium aus unabhängigen Sachverständigen für diesen Bereich Rechtsstaatlichkeit brauchen. Als Vorbild könnte hier aus meiner Sicht die Venedig-Kommission des Europarates dienen. Jeder Mitgliedstaat würde im Benehmen mit der EU-Kommission dazu besonders qualifizierte Persönlichkeiten vorschlagen. Der Rat könnte diese Personen dann mit qualifizierter Mehrheit ernennen. Dieses Gremium sollte sich mit der Aufgabe der Evaluierung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten befassen.

Stellungnahmen eines solchen Expertengremiums könnten dann von der EU-Kommission, dem Ministerrat und dem Parlament dazu genutzt werden, um beispielsweise zu entscheiden, ob sie die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente – die Artikel-7-Verfahren oder auch Beschränkungen bei der EU-Mittelvergabe – aktivieren wollen oder nicht. Und wenn ich bei der Vergabe von EU-Mitteln bin, dann will ich zum Abschluss gerne noch mal betonen, wie wichtig es ist, die Vergabe von EU-Mitteln an Rechtsstaatskriterien zu knüpfen. Es wird jetzt Aufgabe der Bundesregierung auch während der Ratspräsidentschaft sein, nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass der europäische mehrjährige Finanzrahmen schnell beschlossen wird, sondern auch diese Verknüpfung mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit, wie im Kommissionsvorschlag vorgesehen, zu berücksichtigen.

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Das mache ich sehr gerne, Herr Präsident. – Wir können die Zukunft Europas nur dadurch angehen, dass wir durch Zusammenarbeit und Verantwortung aller Mitgliedstaaten diese Europäische Union gestalten, nicht durch Abschottung, wie es manche in diesem Raum vorschlagen.

Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD „Beschluss des Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes“ bekannt: Abgegeben wurden 682 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 388, mit Nein haben gestimmt 175, Enthaltungen 119. Die Beschlussempfehlung ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.

Ich rufe als nächste Rednerin in unserer Aussprache die Kollegin Gyde Jensen von der FDP-Fraktion auf.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7455470
Wahlperiode 19
Sitzung 170
Tagesordnungspunkt Deutsche Ratspräsidentschaft
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