19.11.2020 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 192 / Tagesordnungspunkt 11

Katrin BuddeSPD - Bundesarchivgesetz/SED-Opferbeauftragter

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang Dezember 1989, also vor fast 31 Jahren, wurde die Zentrale der Staatssicherheit in Magdeburg im Kroatenweg besetzt. Das war natürlich nicht nur in Magdeburg so, sondern das war überall in der ehemaligen DDR um die Tage herum ab dem 4. Dezember so. Wir haben die Dienststellen der Stasi besetzt, um zu verhindern, dass Akten vernichtet werden. Damit war dann der Grundstein gelegt, dass eben nicht noch mehr Akten vernichtet werden konnten und dass nicht noch mehr Verbrechen verschleiert werden konnten. Der Apparat hatte danach keine Macht mehr über die Menschen. Das war so etwas wie der endgültige Niedergang eines der wichtigsten Machtinstrumente der SED. Das Ende war auch unumkehrbar, weil die Auflösung dann unter ziviler Kontrolle begann.

In den Stasidienststellen machte das ganz vielen Angst. Ein Stasioffizier hat das mal so formuliert: Man wusste, die kommen irgendwann ins Haus; das sind wahrscheinlich auch die, über die etwas in den Akten steht, und dann ist es besser, die Akten sind nicht mehr da. – Allerdings war damit noch lange nicht geklärt, wie dieser zivile Auflösungsprozess vonstattengehen würde, wer wie Einsicht bekommt. Man muss auch sagen: Der Anfang vom Ende des Stasiapparates war auch der Anfang der Diskussion: Wie weiter mit den Hinterlassenschaften? – Die Meinungen gingen damals wie heute weit auseinander. Über die Debatte am 28. September 1990 in der frei gewählten Volkskammer lassen Sie sich lieber von Augenzeuginnen und Augenzeugen berichten.

Was aber mit dem nahen Ende der DDR und der kommenden Wiedervereinigung auch immer deutlicher wurde, war, dass es keine Einigkeit gab, ob die Akten über den 3. Oktober 1990 hinaus überhaupt zugänglich sein würden. Dies, meine Damen und Herren, mussten wir uns mit einer zweiten Besetzung der Stasizentralen erkämpfen, und zwar im September 1990. Eine solche Öffnung der Akten eines Unterdrückungsapparates, wie wir sie dann doch erstritten haben, ist in der Tat bis heute weltweit einmalig – ein einmaliger und guter Vorgang.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Simone Barrientos [DIE LINKE])

Es gab auch ganz unterschiedliche Motivationen, verschiedene Gründe, warum auch hochrangige Persönlichkeiten auf beiden Seiten, in Ost und West, das nicht wollten. Ich erinnere mich gut an die Zeit; denn es war keine Bezeichnung dramatisch genug, um vor der Öffnung der Akten zu warnen und zu fordern, dass sie einbehalten bleiben sollten: „Siegerjustiz“ die einen, „Hexenjagd“ die anderen, „Racheakte“ – das waren gerne in der Öffentlichkeit benutzte Begriffe.

Persönlich habe ich ja auch verstanden, dass die einstigen Täter und Verantwortlichen im Osten gar kein Interesse daran hatten, dass ihre Untaten öffentlich würden. Aber als 25-Jährige mit immer noch genug Adrenalin im Blut von der erfolgreichen Revolution und der Freude über die erkämpfte und auf die errungene Demokratie war ich doch das erste Mal auch erschreckt über Argumente mancher altbundesrepublikanischer Politiker. Da wurden dann die Errungenschaften langjähriger Debatten um Daten- und Personenschutz der Bundesrepublik ins Feld geführt. Man befürchtete, dass der Streit um die Vergangenheit die innere Einheit und das Zusammenwachsen Deutschlands belasten würde.

Das einzige Argument, über das ich länger nachgedacht habe, war: Es war ja illegal erworbenes Wissen. – Das stimmte. Wie geht man damit um? Damit geht die Bundesrepublik ganz eindeutig um. Aber wir wollten ja wissen, wer uns bespitzelt hatte. Wir wollten ja wissen, wo sie in den Apparaten sitzen, und wir wollten, dass sie nicht weiter da sitzen. Und wir, die wir so aus dem Herbst 1989 kamen, hatten auch an manchen Stellen so den Eindruck, man wolle gar nicht alles wissen, was da über westdeutsche Politikerinnen und Politiker in den Akten steht; denn die Krake Stasi war nicht nur eine ostdeutsche Stasi; sie hat weit in die Bundesrepublik hineingewirkt.

Jedenfalls hat es das damals von der Volkskammer verabschiedete Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS nur durch den massiven Druck der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die am 4. September die Stasizentrale besetzten, und der Abgeordneten der frei gewählten Volkskammer, die mit überwältigender Mehrheit eine Erklärung dazu verabschiedeten und drohten, dem Einigungsvertrag nicht zuzustimmen, doch noch in den Einigungsvertrag geschafft, und das war gut so.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Marianne Birthler hat es mal so beschrieben:

Das neue Stasi-Unterlagen-Gesetz

– das im wiedervereinigten Deutschland beschlossen worden war –

war dennoch nicht nur ein Ost-, sondern auch ein Westkind: Aufarbeitungswille Ost traf auf Rechtsstaat West, Aktenöffnung auf Datenschutz, Leidenschaft auf Vorsicht und Verwaltungserfahrung: Die Gegensätze prallten während des Gesetzgebungsverfahrens ziemlich heftig aufeinander, aber in ihrer Verbindung lag das Geheimnis des Erfolges.

Drei Persönlichkeiten haben seitdem die Stasiunterlagenbehörde geprägt, ihr Profil gegeben: Joachim Gauck, Marianne Birthler und Roland Jahn. Ich will ihnen an dieser Stelle ausdrücklich danken.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Aber auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – ein anfangs ganz kleiner Personalbestand ist auf mehrere Tausend angewachsen – will ich danken; denn sie haben überall die Arbeit vor Ort gemacht.

Nachdem schon in der letzten Legislatur – ich sage es immer wieder – der Beschluss gefasst worden war, die Stasiakten in das Bundesarchiv umziehen zu lassen, übrigens zu überführen und nicht aufzulösen, weshalb die Behörde Mitte Juni nächsten Jahres ihre Arbeit beenden wird – das ist beschlossen –, und eine Expertenkommission Empfehlungen abgegeben hatte, wie die Nachfolge und Neuausrichtung des Bundesbeauftragten aussehen soll, ist es nun heute an der Zeit, das Gesetzespaket, das dies regelt, zu beschließen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Genau so!)

Und auch wenn das Thema mir nicht fremd war, auch wenn mich niemand von der Bedeutung des Themas überzeugen musste, auch wenn ich aus der Landesebene die Diskussion zum Beispiel um die Landesbeauftragten und die Fortentwicklung von deren Aufgaben gut kenne und auch wenn ich wusste, wie hartnäckig wir schon mal in den Ländern gewesen waren, um den Erhalt der Außenstellen zu sichern, und wie wichtig die Außenstellen in der Fläche sind: Das Ausmaß – ich sage es noch einmal – der Fettnäpfe, Tretminen und persönlichen Unverträglichkeiten bei diesem Thema hat mich dann doch überrascht. Deshalb haben wir in einem langen Prozess versucht, so viel Einigung wie möglich herzustellen, den Blick nach hinten zu richten, zu bewahren, und nach vorn zu richten.

Heute liegt ein ausgewogenes Gesetzespaket mit einer breiten Unterstützung aus dem Parlament vor, das von den Bundesländern begrüßt wird, das vom Bundesverband der Opferverbände für richtig gut befunden wird, das von der BStU und dem Bundesarchiv gleichermaßen unterstützt wird, das neue Möglichkeiten und Chancen öffnet, die Rechte an der eigenen Akte gewahrt hält. Durch die Anpassung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird sichergestellt, dass auch die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben. Der Zugang für Wissenschaft und Forschung ist anonymisiert geregelt. Der Übergang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist richtig gut geregelt.

Und noch einmal zum Mitschreiben, insbesondere in die rechte Richtung: Je Land gibt es eine Außenstelle mit Archiv und eine Außenstelle oder mehrere Außenstellen ohne Archiv. Aber diese Außenstellen sind nicht nur ein Lesesaal, sondern sie sind auch ein Ort, der die Besonderheit des Systems der Staatssicherheit, dieses Instrumentes der Ausspähung und Unterdrückung, seine schlimmen Auswirkungen auf Menschen und deren Familien erklärt, in der Erinnerung wachhält und mahnt. Es gibt einen angemessenen und guten Bildungsauftrag.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Akteneinsicht wird an all diesen Standorten möglich sein, auch in Westdeutschland. Deshalb ist es ein gesamtdeutsches Gesetz. Das wird mein Kollege nachher, hoffe ich jedenfalls, noch mal herausstellen. Wir ermöglichen auch die Einbindung in die Gedenkstättenlandschaft der Länder.

Mit der Einrichtung eines Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag geben wir den Anliegen der Opfer und Verfolgten eine Stimme, ermöglichen ihm, mit größtmöglicher Unabhängigkeit dem Bundestag, seinen Gremien und anderen öffentlichen Stellen zu berichten, zu beraten, auf Notwendiges hinzuweisen und wenn nötig auch weitere Gesetze zu veranlassen.

Deshalb sage ich jetzt noch einmal Dank: dem Koalitionspartner, den Miteinbringern, denen, die es möglich gemacht haben, dass die Vorlage mit so einer großen Breite eingebracht werden konnte, den beiden Behörden, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Herrn Jahn und Herrn Hollmann an den Spitzen der Behörden, der BKM und den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Landesbeauftragten, dem Bundesverband der Opferverbände und den Arbeitnehmervertretungen. Ich sage zum Schluss allen Dank, die hätten genannt werden müssen und die ich jetzt vielleicht vergessen habe.

Bitte stimmen Sie diesem Gesetzespaket zu! Es lohnt sich. Wir tun einen guten, richtigen und notwendigen Schritt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat der Kollege Thomas Hacker für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Katrin Budde [SPD])

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7484729
Wahlperiode 19
Sitzung 192
Tagesordnungspunkt Bundesarchivgesetz/SED-Opferbeauftragter
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