15.12.2021 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 8 / Tagesordnungspunkt 1

Rolf MützenichSPD - Regierungserklärung durch den Bundeskanzler

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erleichtert – erleichtert, dass bei aller Deutlichkeit und vielleicht auch Laustärke der Debatte offensichtlich ein Stil in unsere Aussprache zurückkehrt, der der politischen Kultur, aber auch dem Selbstverständnis dieses Parlaments angemessen ist. Attacke, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ist richtig. Aber ich habe zu meiner Genugtuung festgestellt: Die stärkste Oppositionspartei im Haus versprüht kein antidemokratisches Gift mehr, mit dem uns die AfD hier jahrelang überzogen hat.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stephan Brandner [AfD]: Da klatschen ja nicht mal Ihre eigenen Leute, Herr Mützenich!)

– Nein, ich habe gesagt: Sie versprüht kein antidemokratisches Gift mehr in diesem Haus, wie die AfD es getan hat. – Dafür bin ich dankbar. Diese Debatte brauchen wir hier im Deutschen Bundestag.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stephan Brandner [AfD]: Sie müssen alles zweimal sagen, damit Ihre Kollegen es verstehen!)

Deswegen sage ich auch sehr klar: Ja, Streit gehört zur Demokratie; aber zur Demokratie gehören keine Demokratieverächter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Brinkhaus, es mag sein, dass Sie gerne dort auf diesem Platz einen Kanzler von der Union gesehen hätten. Aber die Menschen in diesem Land wollten es anders. Auf diesem Platz sollte ein Sozialdemokrat Platz nehmen. Dafür bin ich dankbar, und wir werden dieses Vertrauen in den nächsten vier Jahren erfüllen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Wie Sie, Herr Brinkhaus, biete auch ich Ihnen Kooperation an, und ich würde mich freuen, wenn alles das, was in den letzten Jahren von Ihnen blockiert worden ist, vielleicht auch von Ihnen etwas überprüft wird. Aber ich danke Ihnen, dass Sie insbesondere in existenziellen Fragen auf die Debattenkultur, die dieses Parlament braucht, zurückkommen.

Die Menschen beschäftigt die Pandemie in erster Linie – gerade auch vor Weihnachten und mit Blick auf die nächsten Monate –, weil sie eine Existenzfrage ist, nicht nur eine Existenzfrage für die Demokratie, für dieses Parlament, sondern für jeden Einzelnen, für Familien, für Betriebe, für Vereine und für die gesamte Gesellschaft überall in unserem Land. Deswegen haben wir versucht, den Menschen so gut wie möglich beizustehen. Wir haben Hilfen bereitgestellt, wir haben Arbeit gesichert, und wir haben auch die dafür nötigen rechtlichen Möglichkeiten geschaffen.

Ich sage sehr deutlich: Wir wissen um die Sorgen in dieser Gesellschaft. Aber wir wissen auch: Die Mehrheit der Menschen steht zu einem Kurs, der lautet: Impfen ist der beste Schutz in dieser Pandemie. Deswegen sage ich: Impfen, impfen, impfen. Wir brauchen keine Quertreiber; denn es sind Quertreiber, keine Querdenker, die die Vernunft aus dieser Gesellschaft herausbekommen wollen. Wir wollen eine vernünftige Politik machen, um diese Pandemie zurückzudrängen, und dafür steht diese Koalition.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ja, wir haben schon vor einem Jahr gemeinsam hier die Befürchtung geäußert, dass sich Teile der Menschen in diesem Land radikalisieren werden. Es ist eine Schande für die Demokratie, dass versucht wird, mit Fackelzügen vor die Häuser von Entscheidungsträgern zu kommen und davor zu demonstrieren, und es ist eine Schande, dass die AfD bei diesen Demonstrationen hilft, dass sie sie lenkt und dass sie die Logistik dafür bereithält. So etwas, meine Damen und Herren, gehört nicht ins Parlament!

(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Aber auf der anderen Seite will ich sehr deutlich sagen: Wir wären keine Volksvertretung, wenn wir nicht auch die Nuancen in unserer Gesellschaft zur Kenntnis nehmen würden. In meiner Heimatstadt müssen sich Menschen rechtfertigen, warum sie sich nicht haben impfen lassen. Aber es gibt immer noch Regionen in Deutschland, wo sich Menschen fragen lassen müssen: Warum hast du dich geimpft? – Genau das müssen wir umkehren, auch in der Debatte hier im Deutschen Bundestag, wenn wir in den nächsten Wochen über die Frage einer verbindlichen Impfpflicht in diesem Land diskutieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen sage ich sehr deutlich: Diese Debatte, meine Damen und Herren, muss gewissenhaft, differenziert und offen geführt werden. Denn auch in meiner Fraktion sind nicht alle Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht. Es gibt in meiner Fraktion eben auch Kolleginnen und Kollegen, die das ein oder andere Bedenken vorbringen möchten. Ich will ermöglichen, dass diese Kolleginnen und Kollegen mit ihren Bedenken auch hier im Deutschen Bundestag zu Wort kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns großen Spielraum bei der möglichen Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in diesem Land eingeräumt. Dennoch: Es ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Deswegen brauchen wir eine Grundsatzdebatte in diesem Haus, und ich sage für meine Fraktion: Wir wollen sie ermöglichen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Umso mehr muss bis zu dieser Debatte sehr eindeutig geklärt werden, ob der Staat alle umfassenden Maßnahmen ergriffen hat, damit sich eben auch alle Menschen impfen lassen können. Wenn wir heute erfahren, dass zu wenig Impfstoff sowohl für die erste und zweite als auch für die Boosterimpfung im Lande ist, dann ist klar: Hier muss nachgearbeitet werden. Wenn nicht ausreichend Impfstoff vorhanden ist, können wir diese Debatte auch nicht verantwortungsvoll führen. Wenn wir nicht genügend niedrigschwellige Angebote vorhalten oder auch die Aufklärung für alle Menschen, die in unserem Land leben, nicht so leisten, dass sie sich impfen lassen wollen, dann gehören auch diese Fragen zu dieser differenzierten Debatte.

Umso wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen – da danke ich der Bundesregierung, die dies im Übergang bereits auf den Weg gebracht hat –, ist, dass jetzt ein Expertenrat gegründet worden ist, der auch schon getagt hat. Dieser Expertenrat ist pluralistisch angelegt. Das kann Vertrauen in diesem Land schaffen; denn es hat auch in der Wissenschaft unterschiedliche Meinungen zu diesen Fragen gegeben.

(Stephan Brandner [AfD]: Ach was! Unterschiedliche Meinungen? Unglaublich!)

Genau das ist die Voraussetzung, um Vertrauen in den nächsten Monaten zu schaffen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es mit den Maßnahmen, die in den letzten Wochen auf den Weg gebracht worden sind, gelingt, noch mehr Menschen vom Impfen zu überzeugen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Stephan Brandner [AfD]: Sonst werden sie gezwungen?)

Meine Damen und Herren, ja, die Pandemie ist eine große Belastung. Aber bereits ohne Pandemie wären die Herausforderungen für eine künftige Bundesregierung riesengroß und umfassend. Der Bundeskanzler hat hier, wie andere Rednerinnen und Redner auch, davon gesprochen, dass die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts der Anfang einer großen, neuen Transformation sind.

(Stephan Brandner [AfD]: Oijoijoi!)

Diese Transformation ist nicht etwas ganz Neues in der deutschen oder europäischen Geschichte;

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Sozialismus hatten wir schon! Da haben Sie recht!)

aber diese Transformation wird rasanter und letztlich auch bahnbrechender sein als viele Transformationen zuvor. Weil sie rasanter ist, ist auch die Herausforderung für die Gesellschaft, für die Menschen so groß.

Der Weg zur fossilen Industriegesellschaft hat über 100 Jahre gedauert.

(Stephan Brandner [AfD]: Was ist denn eine „fossile Industriegesellschaft“?)

Wir sind sicher, dass diese rasante, bahnbrechende Transformation innerhalb von wenigen Jahrzehnten geschafft werden muss, sonst erfüllen wir nicht die Ziele, die wir uns im Koalitionsvertrag gegeben haben.

Auf der einen Seite steht das, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Auf der anderen Seite müssen die Maßnahmen ergriffen werden, die den Menschen Halt in einer bahnbrechenden Transformation geben, die jeden erreichen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das sind Schutzgesetze. Es geht darum, Innovationen zu fördern, aber auch um die Kunst, frühzeitig neue Ideen für diesen Weg zu erkennen. Diese neuen Ideen liegen zurzeit vielleicht in den Laboren, befinden sich vielleicht in den Köpfen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wir haben die Aufgabe, diese Ideen zu fördern und in die Transformation einzubringen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die großen Chancen, die sich daraus ergeben, sind offensichtlich. Es kann gute Arbeit bedeuten, wenn wir sowohl mit Unternehmerinnen und Unternehmern als auch mit den Gewerkschaften und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusammenarbeiten. Im Kern – das ist, glaube ich, der Unterschied zu den früheren Transformationen – haben wir heute das Wissen, die Erfahrung und die Fähigkeiten, diese Transformation zu gestalten und nicht zu Getriebenen zu werden. Wir wollen das Heft des Handelns in der Hand behalten! Ich bin sicher: Das kann diese Fortschrittskoalition. Genau das ist die große Chance für die nächsten vier Jahre.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Fortschritt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wagen wir in dieser Koalition gemeinsam auf Augenhöhe. Ich habe 206 Talente in meiner Fraktion, davon 104, die erstmals in den neuen Deutschen Bundestag eingezogen sind. Diese Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion werden genau darauf achten, ob kluge Investitionen vorangetrieben werden und ob die erneuerbare Energie so ausgebaut wird, dass wir auf sie setzen können. Sie achten darauf, wie wir in Zukunft Netze ausbauen und Verkehre erweitern können und wie wir Forschung ermöglichen. Die große Herausforderung ist: Es muss länger halten als nur ein Haushaltsjahr. Wir investieren nämlich in die Zukunft, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Die Aufgabe meiner Fraktion wird insbesondere sein, das Augenmerk gleichzeitig auf diejenigen zu lenken, die zu wenig oder gar keine Lobby haben, die es – um es mit anderen Worten zu sagen – schwer haben, sich im Leben durchzusetzen. Deswegen ist im Wahlkampf die Frage des Respekts so wichtig gewesen. Es geht darum, dass wir sie in die konkrete Regierungsarbeit überführen. Gute Arbeit, Qualifizierung und Weiterbildung, der Mindestlohn, eine Ausbildungsplatzgarantie, eine Reform des BAföGs und vieles andere – das, meine Damen und Herren, müssen die Leitplanken einer Politik sein, um die Menschen auch in dieser großen Transformation mitnehmen zu können.

(Beifall bei der SPD)

Wir schauen heute natürlich auf uns; das haben wir auch in den letzten Tagen getan. Aber vieles um uns herum bereitet große Sorgen. Ich sage sehr deutlich: Diese Transformation, die die Menschen mit ihren eigenen Fähigkeiten in ihre Hand nehmen können, ist darauf angewiesen, dass in Europa Frieden herrscht. Deswegen müssen wir über unsere eigenen Grenzen, über das, was dieses Parlament ausmacht, hinausschauen. Deswegen, muss ich sagen, bin ich erschrocken, dass in dieser Pandemie die weltweite Wirtschaftsleistung zurückgegangen ist, aber die Rüstungsindustrie in diesen Jahren die größten Gewinne eingefahren hat. Das ist ein Menetekel, und diese Entwicklung muss zurückgedrängt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Friedenspolitik ist notwendig, damit Transformation überhaupt gelingt. Ich bin auch nicht der Meinung einiger Kommentatoren, die sagen: Der Kalte Krieg ist zurückgekehrt. – Das Problem in unseren Köpfen – zumindest bei einigen – ist, dass die Reflexe des Kalten Kriegs zurückgekehrt sind. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden.

Ja, Demokratien untereinander können am besten Frieden halten, und Demokratien können auch am besten Frieden stiften – im Innern wie im Äußeren. Gerade in einer Welt, in der sich offensichtlich nicht mehr an Regeln und das Völkerrecht gehalten wird, müssen wir die Verantwortlichen benennen. Es besteht doch gar kein Zweifel, dass Russland die Regeln gebrochen und das Völkerrecht verletzt hat, dass mit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim ein Spaltpilz nach Europa zurückgekommen ist. Deswegen kann Russland nicht die Bedingungen für die freien Länder in Europa diktieren; denn das würde Unterordnung heißen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Unterschied, meine Damen und Herren, ist: Demokratien sind in der Lage – deswegen haben sie die Freiheit –, kluge Antworten auf diese Herausforderungen zu geben. – Herr Brinkhaus, ich würde Sie gerne daran erinnern, dass in den 90er-Jahren ein Verteidigungsminister von Ihrer Partei, Volker Rühe, einmal gesagt hat, dass Staaten nur einem Bündnis beitreten können, wenn sie keine ungelösten Konflikte in dieses Bündnis hineintragen, wenn sie Demokratie und Marktwirtschaft achten und wenn sie auch die Freiheit im Inneren achten. Ich kann nur sagen: Die in Rede stehenden Länder tun dies zurzeit nicht.

Kluge Antworten auf diese Herausforderungen sind gefragt. Wir können – das ist der Unterschied, Herr Brinkhaus, zwischen Ihnen und mir – Konfliktstoff aus der Debatte herausnehmen. Das habe ich von einer sozialdemokratischen, klugen Außenpolitik gelernt, die gesagt hat: Grenzen müssen wir setzen, aber auch Auswege aufzeigen. – Das ist genau die Politik, die ich mir wünsche.

(Beifall bei der SPD)

Das, meine Damen und Herren, haben in der vergangenen Woche – vielleicht zu Ihrer Überraschung – der amerikanische und der russische Präsident getan; denn sie wollen über eine europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss von NATO-Ländern nachdenken. Deswegen, glaube ich, ist es richtig, diesen Weg in aller Deutlichkeit zu gehen.

Unsere Koalition hat eine große Verantwortung für unser Land und für Europa. Durch Vernunft, Konzentration und Überzeugung wollen wir helfen, Gutes zu schaffen, meine Damen und Herren. Dafür lohnt es sich zu arbeiten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7532724
Wahlperiode 20
Sitzung 8
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung durch den Bundeskanzler
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