Stephan SeiterFDP - Aktuelle Stunde - Konsequenzen aus dem Paritätischen Armutsbericht 2022
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 13,8 Millionen Menschen in Deutschland gelten nach Aussage des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes als arm – 16,6 Prozent der Bevölkerung. Die Coronajahre haben diese Zahlen steigen lassen. Die Zahlen sind eindeutig, und sie sind unbestreitbar; darüber sind wir uns hier im Haus sicher alle einig. Dieser Befund macht nachdenklich, und das auch zu Recht.
Ich möchte aber einen Blick auf den verwendeten Armutsbegriff legen; Jens Teutrine hat das ja schon kurz getan. Dieser Armutsbegriff, der in diesem Bericht verwendet wird, bezieht sich auf die Fähigkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das bedeutet: Wer nach diesem Bericht als arm definiert wird, das heißt, wer nur 60 Prozent des Medianeinkommens oder weniger zur Verfügung hat, kann nicht so am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, wie es die Bezieher der mittleren Einkommen können. Das müssen wir mal festhalten.
Diese Nichtteilhabe ist natürlich insbesondere für Kinder wahnsinnig schwierig. Wir wollen ja alle nicht, dass Kinder ausgeschlossen sind vom Schulausflug, vom Sportverein, von anderen kulturellen Möglichkeiten, beispielsweise davon, mal ins Kino oder ins Kindertheater zu gehen.
Welche Konsequenzen soll man aber daraus ziehen? Da möchte ich an einer Stelle mal auf den Unterschied zwischen kurzfristigen und langfristigen Gründen und Effekten abheben.
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ich würde gern wissen, ob Sie das teilen, was Herr Bsirske gesagt hat!)
– Deswegen bin ich ja jetzt hier. – Man muss unterscheiden, was die kurzfristigen und langfristigen Wirkungen sind. Corona ist das, was wir Ökonomen als einen kurzfristigen Schock bezeichnen, der zwei Jahre gedauert hat, der aber verantwortlich für den Anstieg der Armutsquote in den letzten zwei Jahren ist. Das bedeutet, wir müssen Maßnahmen ergreifen, die dieses Problem kurzfristig in den Griff bekommen. Das ist etwas anderes, als wenn wir darüber reden, was wir langfristig strukturell tun müssen, um diese Armut zu verhindern. Wir wissen: Wenn der Schock weg ist, dann müssten sich die Zahlen kurzfristig wieder anpassen, was natürlich in der aktuellen Situation, aufgrund des Putinʼschen Kriegs und auch der Inflation letztendlich nicht zu erwarten ist.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Es trifft immer nur die Armen!)
– Das trifft die Armen überproportional, und deswegen brauchen wir kurzfristig andere Maßnahmen; dazu wurde ja von den Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition schon einiges gesagt.
Was mich aber interessiert, ist natürlich auch die Frage: Wie können wir zukünftige Armut vermeiden? Denn wir reden über das kurzfristige Phänomen; wir müssen aber auch über die langfristigen Phänomene reden. Insofern geht es darum, dass wir uns überlegen müssen, wie wir Menschen wieder in die Arbeit bekommen. Wir haben eine Arbeitslosenquote von 5,2 Prozent, davon 1 Million Langzeitarbeitslose, und das bedeutet: Auch hier ist ein Ansatzpunkt, zumindest einen Teil der Armut zu beseitigen.
(Beifall bei der FDP)
Das bedeutet: Wir müssen dieses Mismatch überwinden, und wir müssen die Menschen in Arbeit bringen.
Lassen Sie uns in den Haushaltsverhandlungen genauer hinschauen: Wie viele Mittel sind tatsächlich abgerufen worden, wie können wir sie zielgerichtet verwenden, und wie können wir sie unter Umständen für einen wirklich nötigen Teil verwenden?
(Zuruf des Abg. Kai Whittaker [CDU/CSU])
– Darüber können wir uns ja in der Haushaltswoche unterhalten.
Es gilt also, das weitere Anwachsen der Armut zu verhindern. Da möchte ich darauf hinweisen, dass wir in unserer Volkswirtschaft einen Transformationsprozess vor uns haben. Dieser Transformationsprozess wird Folgen für die Beschäftigung haben. Es werden neue Qualifikationsanforderungen notwendig werden, und wir brauchen dann neue Arbeitsplätze mit anderen Inhalten. Das verlangt Innovationen; das verlangt neue Produkte, neue Geschäftsmodelle, neue Märkte. Dazu brauchen wir Forschung und Transfer.
Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dazu in der Lage sind. Das bedeutet, dass wir endlich das Konzept hinter dem Begriff des lebenslangen Lernens tatsächlich auch umsetzen. Ja, wir reden seit 35 Jahren – so lange bin ich in der Wissenschaft aktiv – und, ich bin sicher, noch länger über lebenslanges Lernen. Das heißt, wir müssen Bildung fördern. Wir müssen den Individuen einen Anreiz dafür geben, dass sie bereit sind, sich weiterzubilden. Wir müssen auch den Unternehmen einen Anreiz geben. Das Startchancenprogramm und das Weiterbildungsgeld sind erste Schritte in diese Richtung und werden da auch helfen. Das Bürgergeld, die Anhebung der Altersgrenze im BAföG wurden genannt. Das alles sind Möglichkeiten, wie wir Bildung fördern können.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Lassen Sie mich zum Schluss eine Anmerkung machen. Lassen Sie uns nicht durch falsch verstandenen Strukturkonservatismus Strukturen und Arbeitsplätze kurzfristig erhalten; denn damit ist den Menschen mittelfristig und langfristig nicht gedient. Helfen wir den Menschen, sich an diesen Wandel anzupassen! Dann werden wir ihnen auch die Möglichkeit geben, wieder teilzuhaben. Dafür ist die Fortschrittskoalition angetreten: Wir schaffen die Bedingungen, dass mehr Menschen wieder teilhaben können an unserer gesellschaftlichen Entwicklung.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Aumer.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7538428 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 48 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Konsequenzen aus dem Paritätischen Armutsbericht 2022 |