30.09.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 58 / Zusatzpunkt 9

Bettina HagedornSPD - Fiskalpolitische Disziplin in Europa

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wenn man es freundlich formulieren will, muss man sagen: Der heutige Antrag der Union ist wirklich aus der Zeit gefallen. Wir haben gerade eben über 200 Milliarden Euro gesprochen, die Deutschland in die Hand nehmen will, und zwar zusätzlich zu den fast 100 Milliarden Euro, die wir schon in die Hand genommen haben, um der Krise, vor der wir stehen – das ist ja nicht nur eine nationale, das ist nicht nur eine europäische, sondern auch eine weltweite Krise –, etwas entgegenzusetzen.

Wir haben uns in der Vergangenheit, noch in der Großen Koalition, auf Solidarität in Europa verpflichtet und die Weichen dafür gestellt. Diese Solidarität muss genau jetzt und in Zukunft greifen. Darum will ich Ihnen sagen: Der Vorschlag, die Ausnahmeregeln bis 2024 beizubehalten, kommt ja von der EU‑Kommission; wenn mich nicht alles täuscht, heißt die EU‑Kommissionspräsidentin von der Leyen.

(Johannes Schraps [SPD]: Ja!)

Die Krise, die wir jetzt haben, ist ganz bestimmt nicht kleiner als die, die wir im März 2020 hatten, als dem Aktivieren der Ausnahmeregelung mit Unterstützung der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD hier in diesem Hause das erste Mal zugestimmt wurde.

(Johannes Schraps [SPD]: Genau so ist es!)

Was damals wegen der krisenhaften Zeit richtig war, das ist heute natürlich auch richtig, nämlich Solidarität in Europa zu zeigen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich möchte gerne mit Genehmigung der Präsidentin etwas zitieren und werde gleich sagen, woraus. Zitat:

Für Deutschland ist ein starkes und geeintes Europa der beste Garant für eine gute Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand.

(Kay Gottschalk [AfD]: Das müssen Sie jetzt aber ablesen!)

So einzigartig die Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung ist –

(Kay Gottschalk [AfD]: Wahnsinn!)

selbstverständlich ist ihr Fortgang keineswegs. Die Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht, sind enorm …

Nur gemeinsam hat die EU eine Chance, sich in dieser Welt zu behaupten und ihre gemeinsamen Interessen durchzusetzen. Nur gemeinsam können wir unsere Werte und unser solidarisches Gesellschaftsmodell … verteidigen …

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Lüften Sie doch mal das Geheimnis, von wem diese klugen Worte stammen!)

Investitionen in Europa sind Investitionen in eine gute Zukunft unseres Landes. Wachstum und Wohlstand in Deutschland sind auf das Engste mit Wachstum und Wohlstand in Europa verknüpft …

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Kay Gottschalk [AfD]: Haben Sie das aus einem Schulbuch irgendwie der 80er?)

Um diese Ziele zu erreichen, wollen wir die EU in ihrer Handlungsfähigkeit stärken … Wir wollen die EU finanziell stärken, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen kann.

(Stephan Brandner [AfD]: Das ist aber ein kurzes Zitat! – Zuruf des Abg. Kay Gottschalk [AfD])

Dafür werden wir bei der Erstellung des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens Sorge tragen. Dabei befürworten wir auch spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz …

Wissen Sie, woraus dieses Zitat ist? Es ist aus einem Koalitionsvertrag, und zwar nicht aus unserem,

(Kay Gottschalk [AfD]: Nicht aus dem Schulbuch!)

sondern das sind Zitate aus dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition vom Februar 2018,

(Stephan Brandner [AfD]: Toll, was Sie herausgefunden haben!)

aufgeschrieben maßgeblich von Martin Schulz von unserer SPD, aber mit Zustimmung durch Ihre Kanzlerin und die gesamte CDU/CSU-Fraktion.

(Johannes Schraps [SPD]: Hört! Hört! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Und was folgt jetzt daraus?)

Diese Sätze waren prägend für die drei Jahre, die wir dann gemeinsam in Europa Politik gemacht haben.

(Kay Gottschalk [AfD]: Geld verteilen!)

In der Zeit, als wir die EU-Ratspräsidentschaft innehatten, gab es in Europa die größte Krise, verursacht durch die Coronapandemie. Dank dieser Sätze und dank des gemeinsamen Bekenntnisses zur Solidarität haben wir das größte Finanzpaket mobilisiert,

(Florian Oßner [CDU/CSU]: Was ist jetzt die Konsequenz?)

das es in der europäischen Geschichte je gab.

Der Finanzplan bis 2027 ist unter unserer EU‑Ratspräsidentschaft gemacht worden. Vor allen Dingen: Das 750-Milliarden-Euro-Paket „Next Generation EU“ haben wir gemeinsam gemacht, um Investitionen in Digitalisierung, in den Schutz vor dem Klimawandel,

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Schulden über Schulden!)

in neue Technologien voranzubringen und um unsere europäischen Nachbarn darin zu unterstützen und ihnen die finanzielle Kraft zu geben, all das zu machen. Wissen Sie, das war alles richtig.

Kaum sind Sie nach 16 Jahren Kanzlerschaft aus der Regierung ausgeschieden, schon meinen Sie, es sei jetzt – ausgerechnet jetzt, angesichts des Ukrainekriegs, angesichts einer Inflation, die ja nicht nur uns, sondern auch unsere Nachbarn trifft – an der Zeit, das große Lied anzustimmen, es gebe nichts Wichtigeres, als vor einer Schuldenunion zu warnen. Wissen Sie, das Vokabular kenne ich von Ihnen noch aus der Vergangenheit. Aber in unserer Großen Koalition haben wir nicht dieses Lied gemeinsam gesungen,

(Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Wir wollten nie eine Schuldenunion!)

sondern das Lied der Solidarität. Das, was Sie hier vorlegen, ist aus der Zeit gefallen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ach Quatsch! Es ist so aktuell! – Florian Oßner [CDU/CSU]: Das ist eine Geschichtsklitterung par excellence!)

Ich möchte vor diesem Hintergrund daran erinnern, dass wir eben nicht nur dieses 750-Milliarden-Euro-Paket gemeinsam geschnürt haben, sondern dass unsere damalige Bundesregierung schon im März 2020 ein 540-Milliarden-Euro-Darlehenspaket auf den Weg gebracht hat, um in Europa in der Coronapandemie für Stabilität zu sorgen. Das waren Darlehen; die müssen zurückgezahlt werden. Es waren nicht nur große investive Mittel dabei, die zum Beispiel über die EIB ausgegeben wurden – darauf hat Patricia Lips schon Bezug genommen –, nein, es war zum Beispiel auch das SURE-Paket mit 100 Milliarden Euro dabei. Das war so etwas wie die Unterstützung eines Kurzarbeitergeldes in unseren europäischen Nachbarländern. Es war unsere Idee. Es war das erste Geld, das tatsächlich geflossen ist, und es hat zur sozialen Stabilität in Europa maßgeblich beigetragen. Dass Sie all das zu vergessen und verdrängen scheinen, ist schon beachtlich.

(Katja Mast [SPD]: Das muss mal ausgesprochen werden! Genau! – Gegenruf des Abg. Thorsten Frei [CDU/CSU]: Nein, nicht wirklich! – Weiterer Gegenruf des Abg. Stephan Brandner [AfD]: Bravo! – Yannick Bury [CDU/CSU]: Haben Sie denn den Antrag gelesen?)

– Ja, ich habe Ihren Antrag gelesen. In dem Antrag steht sehr viel, von dem Sie meinen, dass es jetzt auf europäischer Ebene umgesetzt werden soll.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Genau!)

Ich habe eben gerade schon gesagt, dass Sie der Kommissionspräsidentin offensichtlich misstrauen, weil Sie nicht wollen, dass die Kommission die Kontrollfunktion über den Stabilitäts- und Wachstumspakt wahrnimmt.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Es ist halt die Frage, ob es funktioniert, oder?)

Stattdessen soll es eine wie auch immer geartete externe Institution sein. Die Vorschläge, die Sie hier machen, hätten Sie in all den Jahren, in denen wir gemeinsam regiert haben, durchaus auf europäischer Ebene umzusetzen versuchen können.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aber es wird doch jetzt verhandelt! In diesem Herbst!)

Sie wissen natürlich ganz genau, dass wir in Europa nicht alleine unterwegs sind und dass wir dort Dinge mit unseren 26 Partnern gemeinsam umsetzen müssen und dass es vor dem Hintergrund nicht einfach ist, was Sie hier vorschlagen. Es ist eigentlich nicht umsetzungsfähig.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aber wir brauchen doch eine deutsche Position, oder?)

Wir müssen aber vor allen Dingen darauf achten, dass es nicht wieder so kommt wie in den Jahren, als Wolfgang Schäuble, den ich unter vielen Aspekten sehr schätze, als Finanzminister von Deutschland in Europa das Bild des Schulmeisters geprägt hat mit einer harten technokratischen Austeritätspolitik.

(Florian Oßner [CDU/CSU]: Hört! Hört! Da war es ja doch anders!)

Da war es um das Ansehen Deutschlands in Europa schlecht bestellt.

(Florian Oßner [CDU/CSU]: Was für Widersprüche! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aber Sie tragen Verantwortung für die Steuerzahler der zukünftigen Generationen!)

Wir dürfen nicht so tun, als könnte es uns egal sein, was unsere europäischen Nachbarn von uns denken.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU – Florian Oßner [CDU/CSU]: Erst ist alles richtig, und jetzt ist wieder alles falsch!)

Wir haben unseren europäischen Nachbarn gerade in den letzten vier Jahren der Großen Koalition mit Angela Merkel und Olaf Scholz die Hand ausgestreckt, und sie haben sie genommen. Das ist gut und richtig so. Dieses Miteinander in Europa, das brauchen wir in dieser Zeit des Krieges mehr als je zuvor. Darum sollten wir ausgerechnet jetzt nicht wieder anfangen, hier den Lehrmeister auf europäischer Ebene zu spielen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Florian Oßner [CDU/CSU]: Ogottogott! – Yannick Bury [CDU/CSU]: Wir sollen also keine Position vertreten!)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Sozialdemokratie, die ja diesen Koalitionsvertrag 2018 mit Ihnen ausgehandelt hat, und zwar ganz maßgeblich – ich habe darauf hingewiesen –, braucht Ihre Belehrungen ganz bestimmt nicht.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Na, offensichtlich schon!)

Wir werden aber im Gegensatz zu Ihnen genau diese erfolgreiche solidarische Politik in Europa in der neuen Koalition fortsetzen. Wir brauchen keinen Kompass, und Sie haben Ihren offensichtlich verloren.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sie haben ja gar keinen!)

Es könnte natürlich sein, dass zu viel BlackRock bei Ihnen zum Blackout führt

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ach Gott!)

und dass Sie vergessen haben, wofür Sie einmal mit Ihrer Kanzlerin in der Vergangenheit selbst gestanden haben.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Albrecht Glaser.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7546650
Wahlperiode 20
Sitzung 58
Tagesordnungspunkt Fiskalpolitische Disziplin in Europa
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