25.05.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 106 / Zusatzpunkt 2

Helge LindhSPD - Ausreisegewahrsam u. Änderung d. Aufenthaltsgesetzes

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich an Zeiten, in denen Sie, wenn ich in Debatten in Bezug auf Abschiebungen auf Doppelmoral und doppelte Standards hingewiesen habe, also auch bei Kritik an der Großen Koalition, groß applaudiert haben. Heute haben Sie aber gerade ein Musterbeispiel für doppelte Standards, Doppelmoral und Heuchelei abgegeben. Das werde ich Ihnen in den folgenden Minuten auch deutlich machen.

Wenn Sie hier der SPD-Fraktion moralisch aufgeladen vorwerfen, wir trügen die Schuld dafür, dass nicht genügend Menschen abgeschoben würden, dann stelle ich ganz nüchtern fest – ich muss das nicht mal vorwurfsvoll machen; das ist einfach nur eine Feststellung –, dass Sie in den letzten Wochen und Monaten mit Ihrer geradezu manischen Besessenheit, mit der Sie das Thema Abschiebungen auf die Bühne bringen, ohne ganzheitliches Migrationskonzept einen Beitrag dazu leisten, dass rassistische und diskriminierende Denkmuster und überhaupt ein verhetzender Diskurs in Bezug auf Flüchtlinge in diesem Land befördert werden. Das finde ich peinlich und Ihrer nicht würdig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Anke Hennig [SPD]: Genau!)

Das ist insbesondere auch Ihrer ehemaligen Kanzlerin nicht würdig.

(Anke Hennig [SPD]: So ist es! Genau!)

Sie haben ja eben deutlich gemacht, dass wir uns in Widersprüchen befinden würden. Komischerweise sagte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, Herr Wüst, wörtlich bei ntv: Wer auf Abschiebungen setzt, lügt sich in die Tasche.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Ihr Bundeskanzler setzt darauf! – Zuruf des Abg. Alexander Hoffmann [CDU/CSU])

– Ja, das ist Ihre kleine simple Methode. Ich werde es Ihnen gleich erklären.

(Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Oh ja! – Alexander Throm [CDU/CSU]: Fangen Sie mal an!)

Wenn Sie das kognitiv hinkriegen, dann schaffen wir das alle gemeinsam. – Herr Wüst hat ganz deutlich gemacht, welchen Ansatz wir gehen. Wenn Sie sich mal den Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen angucken, dann sehen Sie: Das ist ohnehin letztlich Applaus für den Koalitionsvertrag auf der Bundesebene, die Aufforderung, das gesamtheitliche Konzept der Bundesebene durchzusetzen.

Ich erinnere mich im Übrigen auch an Zeiten – das war die erste Debatte, die ich im nordrhein-westfälischen Landtag erlebt habe –, als es noch die Einstellung gab – fraktionsübergreifend, Union inklusive –, dass man beim Thema „Migration, Flucht und Integration“ bei allen Differenzen aus staatspolitischer Verantwortung heraus eben keine rein parteipolitische Zuspitzung betreibt, das Thema eben nicht instrumentalisiert und sich bewusst macht, dass es hier um Menschenleben geht.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Also wir sollen ruhig sein, ja? – Zuruf des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU])

Warum war das damals der Konsens? Weil man sich daran erinnerte, wie die Debatten in 90er-Jahren gelaufen sind, und weil man sich daran erinnerte, wie die Debatte zum Doppelpass gelaufen ist, Stichwort „Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zum Ausreisegewahrsam!)

Daraus hatten alle gelernt, inklusive der Union in Nordrhein-Westfalen, die es auf Landesebene immerhin weitestgehend verstanden hat. Sie im Bundestag haben es nicht verstanden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Helge Limburg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf der Abg. Gülistan Yüksel [SPD])

Man kann sehr wohl über dieses Thema diskutieren und streiten. Wenn man es aber nur noch verkürzt und auch noch Täuschung und Irreführung der Bevölkerung betreibt, dann ist eine Grenze überschritten, dann ist sie eindeutig überschritten.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Leben Sie eigentlich in Ihrer eigenen Welt, oder was?)

Erstens. Sie erwecken mit Ihrem Gesetzentwurf und Ihrer Rhetorik Woche für Woche den Eindruck, als würden wir durch solche Maßnahmen wie der Verlängerung des Ausreisegewahrsams – und das ist die Täuschung – erreichen, dass wir Hunderttausende von Menschen abschieben könnten; Sie verweisen wieder auf über 300 000.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ach, so ein Blödsinn! Meine Güte! Das ist der Vorschlag Ihrer Regierung! Was erzählen Sie denn da eigentlich?)

– Selbstverständlich erwecken Sie diesen Eindruck, und das ist Irreführung, grobe Irreführung. Mitnichten erfolgt dies.

(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD] – Alexander Throm [CDU/CSU]: Sie werfen Ihrem Kanzler Irreführung vor! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ja, der Bundeskanzler hat das vorgeschlagen!)

Der zweite Punkt. Wenn wir sinnvollerweise – und das ist auch die Position des Bundeskanzlers, weil er verstandesmäßig dazu in der Lage ist, den Gesamtblick zu haben –

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Hä?)

von Abschiebungen sprechen, inklusive solcher Aspekte wie Ausreisegewahrsam, Abschiebungshaft etc., dann liegt der Fokus eindeutig auf Gefährdern und Straffälligen.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Nein, eben nicht! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: So ein Blödsinn! Menschenskinder! Lesen Sie doch den Text!)

Aber das ist eben nicht generell und global gedacht.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Genau das ist Ihr Versagen! Das ist ja unglaublich!)

Ich erinnere hier an das Beispiel der Familie Pham-Nguyen in Sachsen. Mit Innenminister Schuster durfte ich letztens in Sachsen über Fragen der Migrationspolitik diskutieren. Dieser Fall – schauen Sie ihn sich an, wenn Sie ihn noch nicht kennen, auch Sie auf den Tribünen! – ist ein Beispiel dafür, dass man Abschiebungspolitik eben nicht so global und abstrakt betreiben und betrachten darf, sondern dass es sinnvoll ist, gerade bei bestens integrierten Personen und Familien auf das Bleiberecht zu setzen und ihnen Aufenthalt zu ermöglichen. Es ist doch widersinnig, diesen Menschen solche Probleme zu bereiten, Abschiebungen zu forcieren, wo es keinen Sinn macht, wenn sich andererseits Straffällige und Gefährder teilweise der Ausreise entziehen.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Unglaublich! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sowohl als auch! Es geht darum, geltendes Recht durchzusetzen und nicht das, was einem gerade passt! – Dr. Götz Frömming [AfD]: Was für eine hypermoralische Heuchelei!)

Im Übrigen: Ihr Gesetzentwurf ist doch Selbstkritik. Wer hat denn 16 Jahre lang das Innenministerium besetzt?

(Zurufe von der CDU/CSU)

Wer ist denn für diese Zahlen federführend verantwortlich?

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Weil Sie nicht mitgemacht haben! Die SPD hat sich verweigert!)

Sie selbst und niemand sonst!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Sie haben selbst den Beweis geführt, dass a) ohnehin Länder und Kommunen zuständig sind und dass b) das Bundesministerium Abschiebungsmaximalismus überhaupt nicht forcieren kann.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie haben einen Regierungsbeauftragten dafür!)

Ihre eigenen Innenminister sind Zeugen dafür. – Erstens.

Zweitens. Wenn Sie Abschiebungen erwähnen, dann vergessen Sie aber bitte nicht die Migrationsabkommen. Nur so macht das Sinn. Es ist doch auch scheinheilig, zu sagen: „Ihr müsst mehr abschieben“, wenn die Länder die Personen gar nicht zurücknehmen.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Entwicklungszusammenarbeit, Visahebel, Handelserleichterungen! Machen Sie doch mal die Augen auf! Menschenskinder!)

Das heißt, wir müssen zwingend auf faire, auf Augenhöhe gestaltete Migrationsabkommen zu sprechen kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Drittens. Was Sie mittlerweile gar nicht mehr erwähnen – früher haben Sie das hier noch getan –, ist, dass Sie damit Menschenleben retten wollen. Aber ich kann Ihnen ja jetzt noch mal einen Tipp zur Argumentation geben: Wenn Sie das ernsthaft wollen, wenn Sie also irreguläre Migration reduzieren wollen, damit Menschen sich nicht auf den lebensgefährlichen Weg machen,

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Na, Sie wollen das nicht!)

dann sollten Sie auch mit Nachdruck legale Wege betonen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Eins nach dem anderen!)

Sie sollten das Fachkräfteeinwanderungsgesetz lauthals begrüßen.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Das hat doch mit Asylbewerbern nichts zu tun!)

Sie sollten insbesondere sagen: „Setzt das Aufnahmeprogramm für Afghanistan möglichst schnell um!“, damit Afghaninnen und Afghanen in ihrer Verzweiflung nicht den Weg über Asyl suchen.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das ist doch umgesetzt!)

Aber alles das wollen Sie ja gerade nicht. Sie machen es gerade nicht und verweigern sich dem.

(Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD])

Außerdem täuschen Sie auch noch in einem letzten Punkt: Woher kommen denn die meisten? Aus Syrien, Afghanistan, Türkei, Iran, Irak.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Eben! Das ist das Problem!)

Sind das Länder, bei denen man problemlos sagen kann: „Ablehnung des Asylantrags, kein Flüchtlingsschutz, Abschiebung“?

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ja!)

Mitnichten! Das sind Länder in Kriegssituationen.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ach was! In Syrien herrscht schon lange kein Krieg mehr! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Über was reden wir denn eigentlich?)

Aus guten Gründen entscheidet das BAMF in vielen Fällen positiv über die Bescheide; es kann in der Regel nicht einfach abgeschoben werden. Das zeigen umgekehrt die höheren Zahlen der Abschiebungen eben nach Albanien, Georgien und in andere Staaten.

Diese Divergenz zeigt, dass Sie ein Täuschungsmanöver durchführen, indem Sie durch solche Verschärfungsmaßnahmen, die wir ja grundsätzlich überhaupt nicht ablehnen – aber wir lehnen Ihre Logik ab –, suggerieren, Sie könnten massenhaft global Abschiebungen durchsetzen, was Sie aber nicht können.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Ihr Bundeskanzler!)

Das macht auch überhaupt keinen Sinn.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Schauen Sie doch mal, was wir beantragen!)

Also, bitte werden Sie sich endlich Ihrer staatspolitischen Verantwortung bewusst!

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Eijeijei! – Alexander Throm [CDU/CSU]: Nein, Sie! Sie spalten die Gesellschaft, Herr Kollege! Sie sind dafür verantwortlich! Sie und Ihre Koalition!)

Dieses Thema eignet sich nicht dafür, es auf dem Rücken von Geflüchteten und mit billigen parteipolitischen Tricks durchzuspielen. Vor allem haben Sie sich selbst entlarvt. Anstatt zu sagen: „Wir wollen Migration ordnen und eine humanitäre Migrationspolitik“,

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Steuern und begrenzen, genau!)

war Ihr erster Satz, Herr Throm: „Wir machen hier einen Lackmustest.“

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Genau!)

Ihnen sind Parteitaktik, Spielchen, vermeintliche Spaltung und Vorführen der Koalition wichtiger als Menschenleben und verantwortungsvolle Politik.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Helge Limburg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Clara Bünger [DIE LINKE] – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Haben Sie den Gesetzentwurf mal angeguckt?)

Das ist schändlich, peinlich und unanständig.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Anke Hennig [SPD]: Genau so ist es! Das wollen die nicht hören! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Und Ihre Rede peinlich, Herr Lindh! Peinlich! Das war eine Polarisiererrede! – Alexander Throm [CDU/CSU]: Das ist peinlich, dass die da klatschen! Das ist peinlich! Das lässt wirklich tief blicken! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: War das schlecht!)

Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Steffen Janich.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554358
Wahlperiode 20
Sitzung 106
Tagesordnungspunkt Ausreisegewahrsam u. Änderung d. Aufenthaltsgesetzes
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