15.06.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 109 / Tagesordnungspunkt 9

Linda TeutebergFDP - 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Zug fröhlicher Menschen, lachend in die Kamera blickend, den aufrechten Gang praktizierend und die Zuversicht ausstrahlend: Es kann anders werden. – Was sonst typisch war für die Propagandabilder der Diktatur, war hier authentisch: der Gesichtsausdruck, die Stimmung der Arbeiter, die durch Berlin zogen – die Bauarbeiter der Stalinallee, die Stahlwerker aus Hennigsdorf, die nach Berlin hineinzogen – und in vielen Städten und Dörfern der damaligen DDR.

Ein Großteil der Bevölkerung lehnte sich gegen die Diktatur auf. Vorausgegangen war der forcierte planmäßige Aufbau des Sozialismus, eine Art Kalter Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Die Misere war hausgemacht. Sie war Ergebnis der Planwirtschaft.

Während man 1989 mit einem Blick in die Innenstädte und Industrieanlagen sehen konnte, dass die Kernkompetenz der Planwirtschaft „Ruinen schaffen ohne Waffen“ ist, war für die Menschen 1953 die bittere Realität, dass es noch immer Lebensmittelkarten gab. In der Bundesrepublik – wir haben demnächst das 75-jährige Jubiläum der Wirtschafts- und Währungsreform von 1948 – waren die Lebensmittelkarten längst abgeschafft, weil die Idee von Ludwig Erhard, statt den Mangel weiter zu verwalten, Wettbewerb zu gestalten, wirkte.

Die Menschen verließen in Scharen die DDR. Ebenfalls vor 70 Jahren eröffnete Theodor Heuss das Notaufnahmelager Marienfelde. Das war die Vorgeschichte dieses 17. Juni: die Verfolgung von Christinnen und Christen in der DDR, die Verzweiflung von Landwirten, die enteignet wurden und entweder flohen oder, wie viele es taten, Selbstmord verübten. All das war die Vorgeschichte. Die Erhöhung der Arbeitsnormen brachte das Fass dann zum Überlaufen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jene Tage im Juni zeigten der ganzen Welt und ließen es unübersehbar werden, dass die SED-Herrschaft nur auf Waffengewalt beruhte und dass das nicht mal mehr demokratisch aussah. Da half auch die Diffamierung als vermeintlich faschistischer Putsch nicht: Das ist die berühmte RIAS-Legende. Dazu ist einfach zu sagen: Der RIAS hatte den Anspruch, zu informieren, und hat seine Aufgabe wahrgenommen. Egon Bahr als ehemaliger Chefredakteur hat mehrfach erklärt, dass sein amerikanischer Vorgesetzter ihn anwies, zurückhaltend zu berichten. Der RIAS war Katalysator, aber nicht Initiator dieser Proteste, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Allerdings sind diese Legende und die traurige binäre Logik, dass die Ostdeutschen entweder Kommunisten oder Faschisten seien, ja leider bis heute bei manchen verbreitet. Wer es gut meint mit unserer Demokratie, der sieht vor allem, dass die Mehrheit der Ostdeutschen – damals wie heute – Demokratie und Rechtsstaat will.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD und der Abg. Joana Cotar [fraktionslos])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die DDR war nicht nur Fußnote der deutschen Geschichte, und sie ist auch nicht die Regionalgeschichte der Ostdeutschen. Sie ist Teil der gesamtdeutschen und gesamteuropäischen Geschichte.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU und des Abg. Jürgen Braun [AfD])

Die Stasi und die Mauer – das sage ich auch mit Blick auf aktuelle Veröffentlichungen – waren allerdings nicht Details, sondern Wesensmerkmale dieser Diktatur. Die Unterdrückung war nicht Betriebsunfall; sie war Existenzbedingung des Sozialismus.

Es werden auch oft falsche Gegensätze aufgebaut. Der Aufstand damals war sowohl ein Arbeiteraufstand als auch ein Volksaufstand. Wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Freiheit gehören zusammen. Unser Grundgesetz sieht das so vor, mit Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit und Tarifautonomie genauso wie mit den politischen Rechten der Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit usw. Es ist auch ein falscher Gegensatz zwischen Einheit und Freiheit. 1953 war die Einheit das selbstverständliche Ziel, weil das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit noch so nah war, aber die außenpolitischen Bedingungen für die Wiedervereinigung waren nicht gegeben. 1989 war es umgekehrt: Der Abstand war groß – viele haben die Wiedervereinigung zunächst gar nicht als realistisches Ziel gesehen –, aber die außenpolitischen Bedingungen waren glücklicher. Und es war dann der Mehrheitswille der Ostdeutschen. Auch das darf heute nicht verfälscht werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der AfD)

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dieser 17. Juni hat uns heute noch viel zu sagen. Das historische Gedächtnis ist wichtig für die Freiheit. Ich will nur ein Beispiel nennen: So wie die Erinnerung an den 17. Juni in der DDR unterdrückt wurde, so wird auch heute in Peking die Erinnerung an die Tage im Juni 1989 brutal unterdrückt.

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Denn beim geschichtlichen Gedächtnis geht es um die Systemfrage; das ist auch heute so. Wir brauchen ein gemeinsames Gedächtnis. Eine gemeinsame Zukunft braucht ein gemeinsames Gedächtnis – national und europäisch.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554875
Wahlperiode 20
Sitzung 109
Tagesordnungspunkt 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953
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