Markus PaschkeSPD - Zwangsverrentung
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Wesentliche, das, was hängen bleibt, ist bekanntlich der Anfang und das Ende einer Rede. Deswegen lassen Sie mich gleich zu Beginn festhalten: Menschen vorzeitig in Rente zu schicken, widerspricht klar den Zielen dieser Bundesregierung, wie Sie aus vielen Beiträgen der CDU, der CSU und der SPD wissen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Im Gegenteil: Wir wollen, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genauso ihre Chance auf dem Arbeitsmarkt haben wie die jüngeren Kolleginnen und Kollegen; das ist das Ziel der Bundesregierung. Dafür ist es notwendig, dass wir in den Betrieben Voraussetzungen für altersgerechte Arbeitsplätze schaffen. Dafür ist es aber auch notwendig, dass die Arbeitgeber nicht nur über den Mangel an Fachkräften reden; vielmehr müssen sie den erfahrenen Fachkräften auch wirklich eine Chance geben,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da können wir auch klatschen!)
auch wenn sie Ende 50, Anfang 60 sind.
Es ist in den letzten Jahren schon einiges in Bewegung geraten; aber die Zahlen zeigen: Da ist noch viel Luft nach oben. Hier sind die Arbeitgeber klar in der Verantwortung. Ältere Arbeitnehmer sind keine Bürde und auch keine unternehmerische Belastung. Im Gegenteil, mit ihrer Erfahrung sind sie ein Gewinn für das Unternehmen. Wir brauchen endlich ein Umdenken in unserer Gesellschaft,
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)
ein Umdenken dahin, dass man die Leistungsfähigkeit nicht am Alter festmacht, sondern den Menschen mit seinen individuellen Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)
Die Beschäftigungssituation älterer Menschen ist nach wie vor unbefriedigend; denn weniger als ein Drittel der 60- bis 65-Jährigen geht einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. An dieser Stelle sollten wir uns vielleicht noch einmal klarmachen: Über wen reden wir hier? Wir reden über ganz viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen.
Wir reden auf der einen Seite über ältere Arbeitnehmer, die vielleicht 30 oder 35 Jahre in einem Betrieb gearbeitet haben und dann mit Ende 50 durch eine Insolvenz unverschuldet arbeitslos wurden. Häufig sind das Fachkräfte, die allein aufgrund ihres Alters oder weil sie in einer Branche gearbeitet haben, die überproportional stark vom Strukturwandel betroffen war, keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt erhalten haben. Spätestens nach 24 Monaten erhielten sie dann Arbeitslosengeld II. Viele von ihnen haben sich einen Rentenanspruch erarbeitet, der über der Grundsicherung liegt, wenn sie die Rente ohne Abschläge beziehen können.
Es gibt aber auf der anderen Seite auch Menschen, für die es keine finanziellen Nachteile bringt, wenn sie vorzeitig in Rente gehen. Ich kenne mehrere Betroffene, die aufgrund von Krankheit, Unfällen oder anderen einschneidenden Lebensereignissen unregelmäßige Erwerbsbiografien hatten oder die mit niedrigsten Löhnen vorliebnehmen mussten. Deren Rente wird sie niemals unabhängig von der Grundsicherung im Alter machen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dann ist es okay, die Rente zu kürzen?)
Viele von ihnen sind froh, wenn sie sich nicht mehr den Regeln der Jobcenter unterwerfen müssen und in Rente gehen können.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freiwillig ist das kein Problem! Es geht hier um Zwang!)
Ich habe den Kontakt zu den Menschen, und ich rede ständig mit den Menschen. Deswegen kann ich Ihnen sagen: Auch das und nicht nur die Variante, die Sie, Herr Birkwald, beschrieben haben, wird an mich herangetragen.
Aber neben den beiden Beispielen, die ich gebracht habe, gibt es – dazwischen, rechts und links, oben und unten – ganz viele andere Einzelschicksale. Was wir nicht wollen, ist, eine Ungerechtigkeit zu beseitigen und neue Ungerechtigkeiten zu schaffen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche neuen Ungerechtigkeiten werden geschaffen?)
Deshalb ist Eile, wie in Ihrem Antrag gefordert, nach meiner Ansicht völlig fehl am Platze.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Anmerkungen zu dem vorliegenden Antrag machen. Seit Anfang 2008 – das haben Sie richtig festgestellt – können Arbeitslosengeld-II-Bezieherinnen und -Bezieher, die das 63. Lebensjahr erreicht haben, vom Jobcenter aufgefordert werden, einen Rentenantrag zu stellen. Tun sie dies trotz mehrfacher Aufforderung nicht, so ist das Jobcenter berechtigt, den Antrag selbst zu stellen. – Bis hierhin fasst Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, den Sachstand nach § 12 a SGB II korrekt zusammen.
Allerdings verschweigen Sie in diesem Zusammenhang auch Maßgebliches. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein sogenanntes nachrangiges Fürsorgesystem. Hilfe bekommt, wer hilfebedürftig ist. Das ist, glaube ich, vom Grundsatz her auch richtig. Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend selbst sichern kann. Zur Sicherung des Lebensunterhalts werden daher vorrangig eigenes Einkommen oder Vermögen herangezogen. Das beinhaltet grundsätzlich natürlich die Verpflichtung, mögliches Einkommen auch zu erzielen. Dazu gehören Versicherungsleistungen wie zum Beispiel die Rente. – Das ist erst einmal der Grundsatz.
Meine Damen und Herren, Sie wissen: Von jedem Grundsatz gibt es Ausnahmen. Es gibt auch Ausnahmen vom Grundsatz der Nachrangigkeit dieser Fürsorgeleistung. In § 12 a steht noch viel mehr, und das verschweigen Sie in Ihrem Antrag leider auch. Die Ausnahmen lauten, erstens, dass niemand vor dem 63. Lebensjahr gezwungen werden kann, vorzeitig Rente zu beantragen,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich habe nichts anderes behauptet!)
zweitens, dass auch derjenige, der arbeitet und aufstockende Leistungen bezieht, keine Rente beantragen muss.
(Zuruf von der LINKEN: Das wäre noch schöner!)
Drittens gilt das auch für diejenigen, die innerhalb der nächsten Monate eine abschlagsfreie Rente beziehen können. Auch die werden nicht aufgefordert, vorzeitig Rente zu beantragen.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht die Sache nicht besser! Das macht es eher schlimmer!)
Viertens. Auch diejenigen, die glaubhaft machen können, dass sie demnächst ein Beschäftigungsverhältnis aufnehmen, müssen nicht in Rente gehen. Das alles relativiert die Zahl 65 000,
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viele sind es denn?)
die Sie genannt haben und die ich aus meiner Erfahrung – ich war Mitglied im Beirat eines Jobcenters – auch grundsätzlich bezweifle; denn so viele Fälle dieser Art gab es da nicht. In den meisten Fällen – so kenne ich das aus dem Jobcenter, bei dem ich im Beirat war – erfolgten diese Aufforderungen nach Absprache mit den Betroffenen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viele sind es denn? Sagen Sie es mir! Ich lerne gerne!)
Diese Ausnahmen – das sage ich auch – stellen zum Teil sicher, dass keine wahllose und unzumutbare Verschiebung von einer Sozialleistung in die andere stattfindet. Ich sage ganz bewusst: zum Teil. Denn natürlich muss man an dieser Stelle – da haben Sie recht – genau hinschauen. Derzeit wird bei den Aufforderungen der Jobcenter, Rente zu beantragen, zum Beispiel nicht die Höhe des Rentenanspruchs – die Höhe der Abzüge – berücksichtigt, der dadurch entstehen würde. Auch persönliche Lebenslagen bleiben unberücksichtigt.
Das alles kann zur Folge haben, dass Betroffene aufgrund der Rentenabschläge bei vorzeitigem Rentenbezug dauerhaft auf Fürsorgeleistungen angewiesen sind. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist wirklich ein Problem.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Denn es ist weder im Sinne der Betroffenen noch im Sinne des Staates, wenn hier eine Bedürftigkeit neu geschaffen wird – und diese dann auch noch im wahrsten Sinne des Wortes lebenslang. Bis zum Erreichen der Altersgrenze – das haben Sie richtig dargestellt – bestünde Anspruch auf Sozialhilfe und danach auf Grundsicherung im Alter. Diese Gefahr gilt es zu bannen. Ich glaube, wir sind uns in der Regierungskoalition einig, dass wir da konstruktiv an Lösungen arbeiten werden.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier muss mit Augenmaß und Präzision gearbeitet werden. Wir wollen nicht – ich sagte es bereits – eine Ungerechtigkeit beseitigen und zehn neue schaffen. Es gibt viele Dinge, die in diesem Zusammenhang abzuwägen sind. Viele unterschiedliche Lebensverläufe sind zu berücksichtigen. Aber das Ziel ist klar: Wir wollen, dass möglichst wenige Menschen von Transferleistungen abhängig sind. Das ist im Interesse der betroffenen Menschen, und das ist auch im Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sollten die Betroffenen vielleicht selber entscheiden!)
Deshalb arbeitet diese Bundesregierung auch aktiv an Lösungen auf vielen Ebenen. Deshalb haben wir das Rentenpaket mit der Möglichkeit auf den Weg gebracht, ab 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen.
(Beifall bei der SPD)
Das wird nicht allen, aber vielen Betroffenen helfen, Abschläge von ihrer Rente zu vermeiden.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht den Betroffenen, von denen die Rede ist!)
Herr Kollege Paschke, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Herrn Birkwald?
Aber gerne.
Gut.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben eben die Rente ab 63 und das Rentenpaket angesprochen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Unbilligkeitsverordnung kennen, in der Situationen benannt werden, wann der betreffende Paragraf nicht angewandt werden darf. Inhaltlich haben Sie schon ein paar genannt.
Sie haben eben auch schon erwähnt, dass, wenn jemand eine abschlagsfreie Rente in Aussicht hat, die Zwangsverrentungsregelung nicht gilt. So weit, so gut. Wenn die Rente ab 63, wie sie im Entwurf des Rentenpakets bisher vorgesehen ist, kommt, wird in Zukunft jemand, der 1954 geboren ist – er kann dann nämlich im Alter von 63 Jahren und vier Monaten abschlagsfrei in Rente gehen –, wegen eines Monats, den sie oder er nicht schafft, in die Zwangsverrentung geschickt werden.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist. Die Abschläge betragen dann übrigens schon 9,6 Prozent – und das auch ein ganzes Leben lang. Dieses Beispiel, das ich jetzt angeführt habe, gilt für den Jahrgang ’54, gleichermaßen aber auch für andere Jahrgänge. Deswegen sage ich: Nehmen Sie den Namen der Unbilligkeitsverordnung ernst. Diese Zwangsverrentung ist unbillig.
Schaffen Sie sie einfach ab! Ich kann nicht erkennen, wo Sie neue Ungerechtigkeiten schaffen, wenn die Erwerbslosen, die arbeiten wollen, so lange Arbeitslosengeld – in dem Fall dann Arbeitslosengeld II – bekommen statt der Rente, wie sie es für sich entscheiden. Lassen Sie den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht, damit sie selber entscheiden können, wann sie in die Rente gehen wollen und wann nicht! Sagen Sie mir einen Grund, der dagegen spräche!
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Birkwald, ich habe schon in meinem Beitrag deutlich gemacht, dass wir das Problem durchaus sehen. Ich hatte gerade angefangen, einige Punkte aufzuzählen – der erste war die Rente mit 63; ich werde gleich noch einige mehr erwähnen –, die zeigen sollen, wo wir das Thema anpacken. Die Rente mit 63 wird für viele der Betroffenen dazu führen, dass sie keine abschlagsfreie Rente bekommen. Ich habe in meinem Beitrag gesagt, dass ich ganz optimistisch bin – das hat Frau Voßbeck- Kayser ja auch schon gesagt –, dass wir eine gute Regelung finden werden, die alle diese Dinge berücksichtigt. Ich bin aber nicht dafür, dass wir das so, wie in Ihrem Antrag, hopplahopp machen, sondern ich glaube, wir sollten schon präzise und gut arbeiten. Sie können uns vertrauen. Wir kriegen da schon etwas hin.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ganz einfach! Lassen Sie uns zur Rechtslage zurückkehren! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man braucht den Menschen nur die Würde und die Selbstbestimmung zurückzugeben! Das reicht!)
Ich hatte gerade angefangen, an einem Beispiel zu erläutern, was wir tun, um die Situation der Menschen zu verbessern. Das war die Möglichkeit, mit 63 abschlagsfrei in Rente zu gehen. Aber das ist ja nicht alles. Wir haben erhebliche Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente auf den Weg gebracht. Wir führen den Mindestlohn ein und erleichtern die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist ja nicht das Thema!)
Wir werden den Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen bekämpfen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Es geht um Zwangsverrentung!)
Wir werden ein Gesetz für eine solidarische Lebensleistungsrente auf den Weg bringen. Sie sehen: Wir haben schon viel auf den Weg gebracht, und wir haben auch noch vieles vor, viele Schritte zu mehr Gerechtigkeit und zu einer echten Perspektive für viele Menschen. Deshalb sage ich: An dieser Stelle ist Eile völlig fehl am Platze. Um eine verlässliche und nachhaltige Regelung zu erarbeiten, braucht es Besonnenheit und ein verantwortungsvolles Vorgehen.
Und das Ende Ihrer Rede.
Ich komme jetzt zum Schluss. Erst denken, dann handeln und reden, das haben mir meine Eltern beigebracht, ein Satz, der, glaube ich, in allen politischen Zusammenhängen seine Gültigkeit hat. In diesem Sinne – davon bin ich überzeugt – werden wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner eine vernünftige Regelung finden, wie wir zukünftig Ungerechtigkeiten vermeiden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Danke, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist Jutta Eckenbach für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/3391289 |
Wahlperiode | 18 |
Sitzung | 33 |
Tagesordnungspunkt | Zwangsverrentung |