24.06.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 236 / Tagesordnungspunkt 10

Fritz FelgentreuSPD - Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Damen und Herren Gäste, die wir als Angehörige der Toten vom Breitscheidplatz und als Verletzte des Anschlags heute eingeladen haben! Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Es war der Gedanke an das von Ihnen erlittene Unrecht, an Ihren unwiederbringlichen Verlust, der uns Abgeordneten bei unserer Arbeit in den letzten dreieinhalb Jahren ein ständiger Begleiter und Mahner war.

Wenn wir heute darauf zurückblicken, dann können wir ein schlüssiges Bild von den Zusammenhängen zeichnen. Unklarheiten in manchen Details beeinträchtigen das Ergebnis im Ganzen nur wenig. Gleichzeitig sind wir weit davon entfernt, unsere Arbeit mit einem Gefühl der Befriedigung zu den Akten zu legen. Wir haben im Gegenteil ein schärferes Bewusstsein für das Ungenügen, das aus dem Anspruch der Innenpolitik erwächst, Sicherheit für die Menschen im Lande zu garantieren. In einem freien Land wird der Staat diesen Anspruch nie in vollem Umfang gerecht werden können, aber in einer Diktatur erst recht nicht.

Der Auftrag des Untersuchungsausschusses war es, nachzuvollziehen, wie es dem Attentäter gelingen konnte, seine Mordtat zu verüben, wie effektiv die zuständigen Behörden nach der Tat aufgeklärt und Missstände beseitigt haben und welche Schlussfolgerungen für die Zukunft aus unseren Erkenntnissen zu ziehen sind. Über den Ertrag von fast 150 Vernehmungen und 450 Stunden Beweisaufnahme haben wir einen umfangreichen Bericht vorgelegt, den der Vorsitzende des Ausschusses, Herr Kollege Gröhler, am Montag dem Herrn Bundestagspräsidenten übergeben hat. An dieser Stelle möchte ich mich deshalb aus der Sicht der SPD-Fraktion auf die zentralen Punkte konzentrieren.

Klar ist, dass die besonderen Umstände der Jahre 2015 und 2016 Amris Plan begünstigt haben. Die Einwanderung von über 1 Million Menschen in kurzer Zeit hat nicht nur den Grenzschutz überfordert, auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Polizeien des Bundes und der Länder, das Bundeskriminalamt und nicht zuletzt das Bundesamt für Verfassungsschutz wurden über ihre Belastbarkeit hinaus beansprucht. Dass sich unter Hunderttausenden normalen Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben auch Terroristen befanden, war zwar als abstrakte Gefahr erkannt und durch die schrecklichen Anschläge in Brüssel, Nizza und Paris bestätigt worden. Auch gelang es, einzelne Verdächtige zu identifizieren, sodass die Zahl der sogenannten Gefährder in den Akten der Sicherheitsbehörden sprunghaft anstieg. Aber die Kapazitäten wuchsen nicht im gleichen Maßstab mit. Es kam zur Überlastung des Personals und damit notwendigerweise zu Defiziten in der Bearbeitung von Einzelfällen.

Das hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden. Damit Geheimdienste und Polizeibehörden des Bundes und der Länder ihr Vorgehen besser aufeinander abstimmen können, gibt es seit über 15 Jahren das gemeinsame Terrorabwehrzentrum GTAZ in der Treptower Puschkinallee. Elfmal war Anis Amri hier Thema. Immer wieder wurden hier Zuständigkeiten diskutiert und geklärt, Maßnahmen erwogen und ausgewertet, aber am Ende ohne Erfolg.

Der Plan, den Gefährder abzuschieben, schlug fehl. Am Ende schlüpfte er durch die Maschen der Netze, die ihn halten sollten. Eine Fehleinschätzung, die sicherlich keine Polizei in Deutschland so noch einmal wiederholen wird, half ihm dabei. In Berlin fristete Amri sein Dasein als Drogenhändler. Damit verblasste im Bewusstsein der zuständigen Beamten das Bild des terroristischen Gefährders vor dem des Kleinkriminellen, wie es sie hier in der großen Stadt zu Hunderten gibt. Formal änderte sich nichts an der Einschätzung seiner Gefährlichkeit, aber man nahm ihn weniger ernst. Dass jemand mit Drogen handeln und trotzdem ein gewaltbereiter Islamist sein kann, konnten sich damals nur wenige vorstellen, zum Beispiel beim LKA NRW. Heute weiß man es. Zu spät für die zwölf Menschen, die Sie betrauern.

Mir lässt es keine Ruhe, dass in der kritischen Phase im Herbst 2016, als das Berliner Landeskriminalamt mit seinem Latein am Ende war und die Rechtsgrundlagen für die polizeiliche Überwachung Amris ausliefen, nie geprüft wurde, ob der Verfassungsschutz hätte in die Bresche springen können. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür waren erfüllt. Wäre Amri aufgehalten worden, wenn das BKA den Fall früher übernommen hätte, wenn der Bundesnachrichtendienst die lybischen Telefonkontakte im Februar sorgfältiger überprüft hätte, wenn der Verfassungsschutz im Oktober den Hinweisen aus Marokko weniger halbherzig nachgegangen wäre? Wir werden es nie erfahren.

Sicher widerlegen konnten wir aber die These, die der damalige Präsident des Verfassungsschutzes, Maaßen, nach dem Anschlag vertreten hat, Amri sei ein „reiner Polizeifall“ gewesen. In Wirklichkeit war der Verfassungsschutz seit Februar 2016 mit ihm befasst. Amri war in ein islamistisches Netzwerk in Deutschland eingebunden. Er hatte noch während der Tat Kontakt mit einem Mentor des IS, der ihn von Libyen aus betreute. Für Mutmaßungen, es habe in dem Lkw oder am Ort des Anschlags mindestens einen Mittäter gegeben, gibt es allerdings keine Beweise.

Viele Schwächen, die Amri ausgenutzt hat, um vor Verfolgung geschützt zu bleiben, sind inzwischen behoben. Im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum ist eine größere Verbindlichkeit bei der Zusammenarbeit erreicht worden. Eine neue Arbeitsgruppe „Risikomanagement“ verbessert die Fähigkeiten, drohende Gefahr richtig einzuschätzen. Die Basis dafür ist das Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE, das die Polizei seit 2017 nutzt. Noch wichtiger ist sicherlich der Personalaufwuchs im Bereich Staatsschutz und Verfassungsschutz sowohl im Bund wie in den Ländern. Gerade das Land Berlin hat hier große Anstrengungen unternommen und in einem eigenen Terrorabwehrzentrum Experten für alle Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Telekommunikationsüberwachung zusammengeführt. Ich bedanke mich dafür und für seine Anwesenheit beim Staatssekretär Akmann.

(Beifall bei der SPD)

Den Berliner Einsatzkräften war es am Abend des Anschlags relativ schnell gelungen, die Lage vor Ort zu kontrollieren und Verletzte zu versorgen. Man verhielt sich im Sinne des geltenden Rechts auch korrekt gegenüber Menschen, die Angst um ihre Angehörigen hatten, allerdings gab es mit ihnen einen wenig empathischen, oft zu förmlichen Umgang. Wer seine Eltern vermisst, braucht in dem Moment keine Belehrungen über die Standards, die bei der Identifizierung eines Leichnams einzuhalten sind. Um den Bedürfnissen der Geschädigten besser gerecht zu werden, haben Bund und Länder Beauftragte berufen, die den Menschen selbst, aber auch den Behörden mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Wie Amri aus Berlin geflohen ist und woher er seine Tatwaffe hatte, konnte der Ausschuss nicht klären. Es wird wahrscheinlich auch nicht mehr zu klären sein. Alle substanziellen Spuren sind ausermittelt worden. Einen Durchbruch könnten nur neue Zeugen bringen, die aber nicht zu erwarten sind. Es wäre aber auch ein überzogener Anspruch, dass es gelingen könnte, jedes Detail des Geschehens vollständig aufzuklären.

Am Ende unseres langen Weges stehen wir vor der Grundfrage der Innenpolitik, wieviel Sicherheit der Staat uns allen schuldig ist. Der Bund und seine Länder ergänzen einander zu einer Effektivität, die dem Terror selten den Freiraum lässt, um Unheil anzurichten. Unser letzter Zeuge, der selbst aus der islamistischen Szene in Berlin kommt, sagte uns, dass er so einen Anschlag in Deutschland nicht für möglich gehalten hätte. Er ist aber möglich geworden. An diesem Wintertag in Berlin hat unser Staat seine Bürgerinnen und Bürger und ihre Gäste nicht so geschützt, wie sie es erwarten konnten. Dafür möchte ich Sie, meine Damen und Herren, auch im Namen der SPD-Fraktion um Vergebung bitten.

Abschließend möchte ich mich bei dem Ausschussvorsitzenden, Herrn Gröhler, und seinem Stellvertreter, meinem Kollegen Özdemir, für ihre kompetente und geduldige Leitung bedanken. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussbüros danke ich für ihre Herkulesarbeit und ihre Engelsgeduld. Auch der Bundesregierung und den Zeuginnen und Zeugen danke ich für ihre Bereitschaft, unsere Ermittlungen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren zu unterstützen.

Es ist mir eine Ehre, dass ich in diesem wichtigen Untersuchungsausschuss mitarbeiten durfte und dass ich gerade mit dieser Rede auch den Schlusspunkt meines Wirkens an diesem Pult setzen kann.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7530627
Wahlperiode 19
Sitzung 236
Tagesordnungspunkt Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat
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